In Harrys Biographie laufen zwei schwierige Übergänge
zeitgleich ab: Zum einen die Wende und zum anderen der Übergang in
die Arbeitswelt. Der geplante Übergang in die Arbeitswelt kann von
ihm aufgrund der Wende nicht vollzogen werden und er ist gezwungen, sich
neu auszurichten. Das Neue hat dabei eine mehrfache Bedeutung: einmal muss
er den alten Plan verwerfen und durch einen neuen ersetzen, zum anderen
kann er aufgrund der Wende nicht auf eine ihm bekannte gesellschaftliche
Struktur zurückgreifen. Die Regeln der neuen Strukturen sind ihm fremd
und er erlebt sie seiner Person gegenüber als ablehnend. Wesentlich
ist aber darüber hinaus, dass seine eigene gesellschaftliche Position
auch neu für ihn ist: er ist nicht mehr in klare Strukturen eingebunden,
die ihm die schwierige Umorientierung vorgeben würden.
Es gibt aber auch Kontinuität in seinen sozialen Beziehungen. Dies
gilt vor allem in Bezug auf die Eltern, aber auch in Bezug auf Schulfreunde,
die allerdings bis zu diesem Zeitpunkt keine große Rolle in seiner
Erzählung spielten.
Sein Koordinatensystem hat sich also verändert und ausdifferenziert.
Die alte Schule gibt es nicht mehr, die Repräsentanten des alten Systems,
die Lehrer haben sich grundsätzlich geändert: sie sind verunsichert,
denken nur noch an sich und kümmern sich nicht mehr um ihn. Die neue
Schule verliert so ihre Autorität und Attraktivität. Gleichzeitig
treten die Mitschüler als Personenkreis hervor, die wie er auf Distanz
zur Schule gehen.
So entsteht die neue Konstellation, die schon in den ersten Sätzen
bezüglich dieser Phase erkennbar ist: „Da jing des denn einfach
los, das ich da jesagt habe, für was denn eigentlich. Dann bin ich
eben früh’s aus dem Haus jejangen, aus meinem Elternhaus und
bin denn zum Kumpel jejangen und ham Party jefeiert, also sind nich in die
Schule jejangen.“ Bis zu diesem Zeitpunkt gab es zwar auch zwei unterschiedliche
Welten, aber soweit sie sich nicht überschnitten lagen sie parallel
zueinander. Jetzt sind die Welten nicht mehr selbstverständlich, sondern
hinterfragbar und gegeneinander ausspielbar. Im Wesentlichen bewegt er sich
so in den drei Bereichen: Familie, neue Institutionen, zu denen auch die
Arbeitswelt gehört, und Szene.
Eltern und Staat
Die Kumpels und Harry ignorieren die Regeln, klauen Mopeds usw. Sanktionen
des Staates bezüglich dieser kleineren Delikte muss Harry aber nicht
fürchten, da sein Vater selbstverständlich zahlen würde.
Der Konflikt Harry ? Staat würde also sofort durch den Vater entschärft.
Dieses Verhalten erlebt Harry aber weder als Ausdruck der Distanz des Vaters
gegenüber dem Staat, noch als Ausdruck der Nähe zum Sohn in diesem
Konflikt. Ähnlich wie die unklaren Grenzziehungen in der Kindheit wird
dies Entkräften der staatlichen Sanktionen durch den Vater diesem eher
als Schwäche ausgelegt. Es erscheint als ein Verhalten, auf das er
sich verlassen konnte, weil sein Vater nun einmal so ist.
Dies hat aber auch Auswirkungen auf sein Bild vom Staat. Auch er scheint
nicht in der Lage zu sein, klare Grenzen zu ziehen. Im Gegensatz zum DDR-
Staat, der durchaus hart sanktionieren konnte, trägt das neue System
ähnliche Züge wie seine Eltern. Dies wird später bei der
Thematisierung der Polizei noch deutlicher. Die Nähe zwischen dem neuen
System und den Eltern wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Eltern
gut in die neue Struktur integrieren können: „mein Vater ist
mehr so der Gewinner von der ganzen Sache geworden. [...] Dem geht es gut
also der freut sich. [...] Och so politisch gesehen, der is in der SPD und
so richtig weit gekommen zur Zeit, dem geht es eigentlich gut.“
Während seine Lebensplanung durch die Wende zerbricht, integrieren
sich seine Eltern in das neue System und ihnen geht es gut. Eltern und die
neue Struktur nähern sich für ihn an, so dass sich seine Distanz
nicht nur auf das neue System bezieht, sondern auch auf die Eltern ausdehnt.
Es entstehen wieder zwei Lebensbereiche: auf der einen Seite die Eltern
und die neuen Strukturen und auf der anderen Seite die Welt der Kumpels.
Die Eltern werden zu Repräsentanten des Systems und dieses übernimmt
charakteristische Merkmale der Eltern. Demgegenüber ist die Welt der
Kumpels von den Freunden aus der alten Zeit geprägt, die auf Distanz
zur neuen fremden Welt gehen.
Dafür, dass Harry nach wie vor bei seinen Eltern wohnt, erzählt
er nur sehr wenig über das Leben mit ihnen. Nachdem klar war, dass
sein ursprünglicher Lebensentwurf so nicht verwirklicht werden konnte,
dass bei der Bundeswehr zumindest eine fertige Ausbildung erwartet wird,
scheint zumindest sein Vater von ihm entsprechende Schritte erwartet zu
haben. Aber auch außerhalb der Familie scheint die Situation, dass
er zuhause ist, während sein Vater zur Arbeit geht, negativ aufgefallen
zu sein („is natürlich klar das da was rumgemobt wird“).
So beginnt er wahrscheinlich einige Monate nach dem Schulabschluss eine
Lehre zum Chemielaboranten. In der Schule war er sehr gut in Chemie gewesen,
es interessierte ihn und so konnte er es sich auch vorstellen, dies beruflich
zu machen. Schon bald nach Beginn wurde ihm aber klar: „das war absolut
nicht das, was ich mir vorjestellt habe. Ich fand’s absolut zum kotzen!“
Interessant sind dabei die formulierten enttäuschten Erwartungen: Es
ging nicht mehr um die Frage, inwieweit er durch die Arbeit in feste Strukturen
integriert wird, welche Aufstiegschancen er hat bzw. welche Sicherheiten
sie ihm für die Zukunft bieten, also alles Kriterien, die noch vor
der Wende wesentlich waren. Jetzt bemängelt er, dass die Lehre zu eintönig
gewesen sei, dass er drei Wochen lang jeden Tag das gleiche machen musste,
dass ihm das „zu blöd“ gewesen sei. Außerdem hätte
er auch noch 'Putzfrau spielen müssen‘. Die konkrete Arbeit
gefiel ihm nicht, er fühlte sich unterfordert, gelangweilt und unter
seiner Würde beschäftigt. Außerdem wollte er mehr Geld verdienen,
nach der Wende sei alles teurer geworden. Er bricht die Lehre nach drei
Monaten ab und will lieber mit Hilfsarbeiterjobs 1400,- - 1500,- DM verdienen.
Kumpels
Zu verstehen ist Harry Situation zu diesem Zeitpunkt aber nur, wenn man
gleichzeitig die Integration in die Welt der damaligen Kumpels mit einbezieht.
Wie oben erwähnt ist Harry schon zur Schulzeit mit Freunden zusammen,
die wie er die Zeit bei Eltern und Schule zugunsten der Freizeit und der
Gemeinsamkeit zurückdrängen. Hier beginnt auch seine kriminelle
Karriere mit „so’ne kleene Dinger“, eben den oben genannten
Diebstählen. Für die Karriere, von der er berichten will, scheinen
diese Delikte nicht voll gültig zu sein. Es waren Delikte, für
die es nur Geldstrafen gab, für die er nicht hätte aufkommen müssen.
Da er in diesem Segment teilweise im Konjunktiv spricht, ist auch nicht
klar, ob er tatsächlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, oder
ob er nur darauf hinweisen wollte, dass er sich des Verhaltens des Vaters
sicher war.
So setzt er einen zweiten Markierer: „aber wie jesagt eben es ging
los, mit Schlägereien und so“. Im nächsten Satz folgt auch
gleich eine Begründung für diese Delikte: „War damals ebend
mehr in der rechten Szene drinne so.“ Schlägereien erscheinen
als Normalität für die rechte Szene. So erklärt er auch nicht,
warum es in dieser Szene zu den Körperverletzungen kommt, sondern warum
er in der rechten Szene war. Quasi als Entschuldigung führt er an,
dass er damals erst 16 Jahre alt war und dass in der Gruppe Ältere
waren.
Wie in den DDR Institutionen ist in der Szene seine Anpassungsfähigkeit
gefordert, die mit Integration in eine eindeutige Struktur und entsprechenden
sozialen Kontakten belohnt wird. Die Älteren sagen ihm: „Wenn
Du mitmachen willst, dann musst Du Dir die Haare rasieren, Stiefel anziehen,
dann kannste mitkommen, so ungefähr.“ Er folgt dieser Integrationsaufforderung
schon weil er die Personen alle von der Schule her kennt, die damals in
die rechte Szene gegangen waren. Er akzeptiert die Autorität der Älteren
und deren Ideologie. Er betont mehrfach, dass er das tatsächlich damals
für richtig gehalten habe, was er aus heutiger Perspektive selbst für
begründenswert hält. Im Gegensatz zu heute sei er damals noch
nicht so weit gewesen, sich eine eigene Meinung zu bilden: „War ja
noch nicht soweit, war ja noch nicht zu erreichen des Ding, noch nich, war
nich jeplant, was man selber für richtig hält.“
In dieser Szene herrschte das Selbstbild, Opfer gesellschaftlicher Prozesse
zu sein und ihm wurde gesagt, dass die Ausländer daran schuld seien.
Er stimmt dieser Interpretation wie selbstverständlich zu, obwohl er
in mehrfacher Hinsicht gegenüber seinen Kumpels privilegiert ist. So
hat sein Vater im Gegensatz zu den anderen nicht seinen Job verloren und
er erlebt zuhause im Gegensatz zu seinen Kumpels keine Einschränkung
durch eine harte Grenzziehung. Wenn seine Kumpels um 21.00 Uhr von der Disco
zurücksein mussten, so hat sein Vater noch nicht einmal was gesagt,
wenn er um 24.00 Uhr nach Hause kam. „Hausarrest oder sowas, wie andere
kannt ich überhaupt nich“
Dieser Zusammenhang macht die ambivalente Position von Harry zu dieser Zeit
am deutlichsten. Er lebt in zwei Welten, die sich nicht nur unterscheiden,
sondern in bestimmten Regeln sogar gegenseitig ausschließen. In der
einen Welt ist die geregelte Arbeit ein hoher Wert und er muss sich mit
dem Druck des Vaters auseinandersetzen, etwas in diese Richtung zu tun und
in der anderen Welt ist schon die geregelte Arbeit des Vaters ein Integrationshemmnis.
Die Kumpels leiden unter den Sanktionen der Eltern, während er eher
klare Strukturen vermisst. Er hat das Verhalten seiner Eltern nie verstanden
und so kommt es über diesen Zusammenhang zu einem offenen Konflikt
zwischen den beiden Welten.
Eltern und Kumpels
Er berichtet von dem Aufeinandertreffen der zwei Welten an zwei Stellen
im Interview aus verschiedenen, aber ähnlichen Perspektiven. Zum einen
diskutiert er so die positiven und negativen Seiten des aus seiner Sicht
lockeren Erziehungsstils vor allem seines Vaters. Wie schon in der Vorwendezeit
ist er in dieser Frage ambivalent: „eigentlich“ sei es für
ihn gut gewesen, „aber vielleicht hätt’s nich so sein sollen.“
Es stehen sich hier zwei Perspektiven gegenüber, einerseits die Sichtweise
von Harry, der einen konkreten Nutzen aus dem Umgang zieht, zum anderen
die Sichtweise eines außenstehenden Analysanden, der abstrakt beschreibt,
welche Folgen der Erziehungsstil des laissez faire hat. Entsprechend mischen
sich seine Erzählperspektiven. Wenn 'man‘ nicht klar sanktioniert
wird, nutzt 'man‘ die Situation „eben immer mehr“
voll aus. Als seine Eltern in den Urlaub gefahren waren, habe er zuhause
Partys gefeiert und das Haus unaufgeräumt mit den Kumpels verlassen.
Um die Grenzüberschreitung noch zu verdeutlichen führt er aus,
dass die Bude auf dem Kopf gestanden hätte und der Fernseher „vielleicht“
noch geklaut gewesen sei. Rätselhaft war ihm gewesen, dass der Vater
dazu kaum etwas gesagt hatte.
An einer anderen Stelle des Interviews berichtet er von seinen vermeintlichen
Grenzüberschreitungen in Zusammenhang mit der Ablehnung durch die Bundeswehr.
Er war sich völlig sicher, dass er eine Laufbahn beim Militär
machen konnte und plötzlich kam der ablehnende Bescheid von der Bundeswehr.
Im Anschluss an dieses Segment verweist er als Reaktion auf diesen Bruch,
dass er eine Zeit lang versucht habe, sein eigenes Leben zu leben, unabhängig
davon, ob seine Eltern damit einverstanden waren oder nicht. So nimmt er
einfach das Wohnzimmer mit seinen Kumpels in Beschlag und beobachtet seine
Eltern. Diese verlassen den Raum. Er wird immer rücksichtsloser, was
aber auch nicht zu der erwarteten Reaktion der Eltern führt. Jetzt
hat er aber für die erlebte Resonanzlosigkeit der Eltern eine eindeutige
Erklärung: „für die bin ich eben völlig gleichgültig,
weil die sagen zu mir kaum noch was.“
Durch die Integration in die Szene hat er so viel Distanz zu den Eltern
aufbauen können, dass er sich seinen Unmut über sie zugestehen
kann und entsprechende Konsequenzen zieht. Er reißt von Zuhause aus
und geht zu seinen Kumpels. So zieht er in der Beziehung zu den Eltern eine
deutliche Grenze und gibt ihr so eine Struktur, die er lange vermisst hat.
Da jetzt der Bruch mit dem von der Gesellschaft privilegierten Vater offen
vollzogen ist, ist auch die Position von Harry in der rechten Skinszene
eindeutiger.
Seine Charakterisierung dieser Szene ist von zwei widersprüchlichen
Tendenzen geprägt. Einerseits war er damals dort integriert und vertrat
auch die entsprechende Ideologie. Andererseits distanziert er sich inzwischen
vom Rechtssein und will dem Bild entgegenwirken, Skins seien rechts. Dies
hat zur Folge, dass, obwohl er sich mehrere Jahre in dieser Szene bewegte,
er nur wenige Informationen über sein Leben dort preisgibt. Das narrative
Erzählschema wird immer wieder durch Argumentationen unterbrochen.
Dann versucht er sein damaliges Verhalten aus seiner damaligen Situation
heraus zu erklären.
Er distanziert sich von einem Teil seines Verhaltens, bewertet die Zeit
aber trotzdem positiv. Bezogen auf diese Zeit distanziert er sich von der
rechten Ideologie, dem 'rumgrölen‘, 'rumlaufen‘,
'einfach sinnlos da, Leute vor den Kopf hauen‘, dem starken
Alkoholkonsum und der Randale nach dem Fußballspiel. Er habe sich
ein „bisschen rumgeprügelt, also auch Anzeige jekriegt wegen
Körperverletzung, und so weiter und so fort“. Es ist nicht klar,
welchen Stellenwert die einzelnen Delikte tatsächlich in seinem damaligen
Leben hatten, aber weder die Gewalttaten, noch die Anzeige scheinen für
ihn begründenswert. Es sind in dieser Szene normale Begebenheiten.
Außerhalb der Szene hat Harry noch zwei Personen, die ihm wichtig
sind und die ihn wegen seines Lebensstiles kritisieren. Zum einen ist da
ein langjähriger Freund, mit dem er schon zur Schulzeit befreundet
war. „Mit dem war ich also besonders viel, bloß eben, er baut
keene Scheiße, das is das Problem.“ Selbst wenn die Freundschaft
auch in dieser Zeit besteht, so ist die Kritik des Freundes an Harrys 'Scheiße
bauen‘ ein Distanz schaffender Faktor, der später zum Bruch führt.
Zum anderen hatte Harry zu dieser Zeit auch eine Freundin, mit der er vom
16. bis zum 19. Lebensjahr zusammen war. Die Beziehung verlief also ungefähr
zeitgleich mit seiner Zugehörigkeit zur rechten Skinszene. Er betont
aber ausdrücklich, dass diese Freundin aus einer 'ganz anderen
Gruppe‘ kam, die 'gar nichts mit seiner Gruppe zu tun hatte‘.
Diese Gruppe wird von ihm als „ganz normal“ gekennzeichnet.
Trotzdem bringt er die Freundin in Zusammenhang mit seiner Integration in
die rechte Skinszene: Er wollte damals nur einen Tag mit den Kumpels rumziehen
und ein Jahr ist daraus geworden, „weil, ich hab damals och meine
Freundin kennengelernt“.
Er verbringt die Zeit wahrscheinlich in der nahegelegenen Großstadt
und kann sie am Anfang auch genießen. Seine Freundin ist ebenfalls
von Zuhause weggegangen und hat eine Zeit lang im Orientierungshaus für
obdachlose Kinder in der Großstadt L gewohnt. Da er schon zu alt ist,
kann Harry selbst nicht lange im Orientierungshaus wohnen.
Nach einiger Zeit treten die Konflikte zwischen Harry und der Freundin bzw.
zwischen den beiden Lebenswelten in den Vordergrund. Wenn er besoffen war
und sie ihn besuchte, hätten sie sich nur noch gestritten. Sie lebte
mittlerweile wieder bei ihren Eltern und scheint die Trennung mit ihm forciert
zu haben, „was ich nachher och einjesehen habe, es jeht nicht mehr
so!“.
Ausgrenzung in der Phase der Differenzierung
und Distanzierung
Die Bedeutung der Ausgrenzung für Harry hat sich seit der Wende eklatant
verändert. Damals gab es eine nicht unproblematische, aber selbstverständliche
Struktur, in der Ausgrenzungsprozesse, mit den Ressourcen und Regeln der
Struktur bearbeitet wurden. Mit der Wende muss er sich nicht nur durch Anpassung
integrieren, sondern auch entscheiden, wo er sich verortet. Diese Entscheidung
wird ihm aus seiner Sicht zu einem großen Teil durch die Ablehnung
von der Bundeswehr abgenommen. Hier erfährt er eine ganz konkrete Ausgrenzung
durch die neuen staatlichen Institutionen. Die Versuche des Vaters, ihn
in eine berufliche Laufbahn zu integrieren, schlagen fehl. Die Lehre ist
nicht in der Lage, seine Erwartungen und seine neuen Bedürfnisse zu
befriedigen. Die Identifizierung der konturlosen Eltern mit dem neuen System
führt zur Distanzierung und somit zu einem Ablösungsprozess von
denselben. Er gehört demgegenüber mit den rechten Skins zu den
Outsidern, den Verlierern des neuen Systems.
Die Wende hat so aus einem angepassten Jugendlichen mit einer konventionellen
Lebensplanung eine vom System entwurzelte Person gemacht, die entsprechend
ihrer neuen gesellschaftlichen Position nach den Regeln der Outsider lebt.
Beim Erlernen dieser neuen Rolle ist ihm seine Anpassungsfähigkeit
wieder sehr behilflich. Ohne die Inhalte zu hinterfragen, übernimmt
er die Ideologie der älteren Autoritäten in der rechten Szene.
Ausgrenzung ist für ihn zu dieser Zeit eindeutig ein äußerer
Konflikt: ein Konflikt zwischen den Protagonisten und Gewinnern im neuen
System und den Verlierern. Wie es zu dieser Kluft kommen konnte und warum
er auf der Seite der Verlierer steht, ist ihm nicht klar. Dass die Verlierer
aber für ihr Verhalten sanktioniert werden, scheint nicht gesondert
erklärt werden zu müssen. Wie das abweichende Verhalten selbst
gehören die Sanktionen zu seiner Welt.
Aus diesem Schema fallen sowohl sein Freund als auch seine Freundin heraus.
Wichtig ist dabei v.a. seine Freundin, die wie er auf der Seite der Verlierer
steht, ihn aber durchaus wegen seiner Lebensweise kritisieren kann und sich
von ihm distanziert. Das heißt, auch diese Welt verliert ihre Selbstverständlichkeit,
ist hinterfragbar.
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Die Jahre in der rechten Szene waren für Harry sehr wichtig. Hier hatte
er eine Struktur vorgefunden, in die er sich aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit
schnell integrieren konnte und deren Ideologie eine Erklärung für
die ihm ansonsten unverständliche Situation nach der Wende bot, „dass
die Ausländer dran Schuld sind“. Nicht zuletzt durch die Distanzierung
von den Eltern und den gesellschaftlichen Institutionen konnte er sich auch
klarer in der Gesellschaft verorten. Im zweiten Abschnitt seiner Interimsphase
löst sich Harry von der rechten Szene, fühlt sich aber weiterhin
den Skinheads verbunden.
Harry der Skin
Um die beiden Szenen genauer charakterisieren zu können, fehlen vor
allem in Bezug auf die alte Szene Informationen. Zur Szene dazuzugehören
scheint für ihn vor allem die Bedeutung gehabt zu haben, sich an den
Regeln bekannter und älterer Personen zu orientieren. Auch wenn er
sich eindeutig hier verortet, so hatte er doch immer auch außerhalb
der Szene Kontakte. Sein langjähriger Freund, der 'keine Scheiße
baut‘ und seine Freundin, die aus einer 'ganz normalen Gruppe‘
kommt sind dafür Beispiele. Diese Kontakte ermöglichten ihm einen
Blick auf die Welt jenseits der Szenegrenze, ohne sich gleich wieder in
der abgelehnten Welt der Eltern zu befinden. Die 'In-group‘
Ausrichtung ist nicht ausschließlich.
Dies führt aber auch dazu, dass die Eingrenzung der rechten Szene selbst
zur Disposition gestellt wird. Sie kann als etwas Trennendes empfunden werden
und zwar zwischen Personen und Lebensweisen, die ihm wichtig sind.
Dieser Vorgang hängt für ihn mit dem 'älter werden‘
zusammen. Es ist ein Prozess von der Orientierung an anderen hin zu einer
Orientierung an eigene Bedürfnisse. Eine daraus resultierende Wende
in seiner Beziehung zur rechten Szene datiert er auf „18 oder so“.
Damals war er auf einem Ska Konzert in Brüssel und „da fiel mir
das erst mal so auf, dass da ebend, dass es och andere Skins gab, nich nur
rechte.“ Er lernte linke Skins kennen, Skins, die gegen Rassismus
waren und „ebend normale Menschen“, die „Hauptsache Party“
haben wollten und denen ansonsten egal war, was die anderen so machten.
Für Harry tat sich eine neue Welt auf, eine Welt, in der es vor allem
um das gemeinsame Musikerlebnis geht, um Spaß haben und Partys feiern.
Die politische Ausrichtung ist in dieser Welt nur eine störende Trennlinie
zwischen Leuten, die ein gemeinsames Interesse haben. Die bei den rechten
Skins angestrebte und erlebte Gemeinschaft kann so weiter ausgedehnt werden.
Bei dieser Gemeinschaft steht aber nicht mehr die Distanzierung von anderen
Welten als konstituierendes Merkmal im Vordergrund, sondern die möglichst
breite Einschlussfähigkeit der Musik und des Bedürfnisses nach
Gemeinschaft und Spaß.
Klare Grenzen scheinen diesem Bild von Gemeinschaft prinzipiell entgegenzustehen.
Nach einer Phase der Distanzierung versucht er nun Grenzen, die seinen Bedürfnissen
entgegenstehen zu relativieren und getrennte Welten zusammenzuführen.
Ihm kommt dabei seine Kontaktfreudigkeit zu Gute. Er kennt nicht nur rechte,
linke und unpolitische Skins, sondern auch viele Punks. So spricht er auch
von der „Punk- und Skinszene“, in der er sich bewegt. Er unterhält
sich aber auch mit „irgendwelche Autonome“ bei einem Bier und
er hat „viele Freunde“ aus Mozambique.
Auch die äußeren Merkmale der verschiedenen Jugendkulturen verlieren
für ihn ihre trennende Bedeutung, so kann er durchaus bei einem Irokesenschnitt
zugestehen, dass das bei 'manchen echt gut aussieht‘. Punks
„sind och keene politischen Leute die die gleiche Musik hören
wie ich hören, Party machen ist och alles [...]“.
Sein Traum ist es, dass die verschiedenen Szenen mehr zusammengehen. Um
dies zu verdeutlichen verweist er auf das Lied von Jimmy Pursey: 'If
the kids are united‘ und fasst es so zusammen: „Wenn alle zusammenhalten
wird’s allen gutgehen, alles wird gut.“
Zeitweise wird diese Gemeinschaft auf Partys und Konzerten erreicht. Er
spricht sich selber Mut zu wenn er sagt: „Zwischen linken und rechten
Skinheads nich unbedingt aber ne kleene Verbindung gibt es da auch, hundert
Prozent. Spätestens beim Ska - Konzert kommen die alle mal irgendwann
zusammen.“ Fast resigniert fügt er allerdings hinzu: „Da
gibt es keene Randale, und wenn ich draußen auf der Straße sitze
da sieht’s schon wieder ganz anders aus. [...] Das kotzt mich dann
eigentlich schon an.“
Wahres Skinsein und das
falsche Bild
Dieser Prozess des 'älter werdens‘ hat für ihn weitreichende
Konsequenzen. Es ist nicht mehr möglich, sich einfach vorgegebenen
Strukturen anzupassen und sich abhängig von dem zu machen, was ihm
die Älteren sagen. Entsprechend seiner eigenen Struktur verändert
sich auch die Struktur der Szene. Sie besteht für ihn jetzt aus einen
lockeren Zusammenhang vieler Freunde. Er nennt dabei bis zu 300 Personen
zu denen er Skins und Punks zählt. Seiner Schilderung zur Folge treffen
sich täglich ca. 20 – 30 dieser Leute an verschiedenen Orten
der Stadt, so z.B. im Park oder auf dem Marktplatz, trinken Bier, hören
Musik und haben „schön viel Spaß“ und ab und zu gehen
sie auf Konzerte von Skin- oder Punkbands. Es scheint eine harmonische Szene
zu sein und es wundert ihn selbst, dass, obwohl sich nun täglich so
viele treffen, sie „keine Scheiße jebaut“ hätten,
abgesehen von der lauten Musik.
Im Gegensatz zur rechten Szene würden auch die Mädchen voll akzeptiert.
Neben diesen sehr weiten Freundeskreis gibt es aber auch noch den engen
Freundeskreis, „een ganz kleenen, einen Kern“ von fünf
bis sechs Personen. Dieser Kreis trifft sich ohne die Anderen, trinkt Bier,
unterhält sich und sieht Musikvideos. Dies sind die Personen, die „genauso
denken wie ich“ und dementsprechend keine Randale im Fußballstadion
oder auf der Straße machen.
Er versteht sich weiterhin als Skin, steht auch noch zu den alten Freunden,
distanziert sich aber vehement von dem Identitätsmerkmal vergangener
Jahre, der Politik. Entsprechend verändert sich auch seine Definition
vom Skinsein.
Für ihn ist das eigentliche Skinsein so etwas wie eine multikulturelle
Musikszene, in der die gemeinsame Party im Zentrum steht. Dies leitet er
historisch ab, indem er auf die Wurzeln in Südengland verweist, wo
Schwarze die Skinheadmusik, den Ska erstmal populär gemacht hätten.
„Das versteh ich nicht, wenn sich einer die Haare abrasiert und ein
T-Shirt anzieht, 'ich bin stolz Deutscher zu sein‘, und sich
dann als Skinhead ausgibt.“ Damit lehnt er aber nicht den rechten
Skin als Person ab, sondern nur dessen Art zu denken. „Eigentlich
[seien sie] ganz cool drauf“, würden aber „total falsch
denken“. Wie bei seinem eigenen Rechtssein erklärt er sich diesen
Widerspruch mit deren persönlicher Unreife, die würden halt kurze
Haare haben und „Sieg Heil“ schreien, weil „der große
Bruder“ dies so vorgeben würde.
Politik muss allerdings von 'Gedankengut‘ unterschieden werden,
das er durchaus weiter behalten will. So habe er eine „Vorliebe für
den zweiten Weltkrieg“. Politisch sein ist für ihn immer mit
konkreter Auseinandersetzung verbunden und damit geht es mit der Suche nach
Randale und dem Stress machen zusammen.
Die Welt der Skins, in der sich Harry bewegt, sieht also grob wie folgt
aus. Um den „Zusammenhalt und die Musik“ gruppieren sich unterschiedliche
Jugendliche mit ähnlichen äußeren Merkmalen, die ihren Spaß
haben wollen.Da Punks eine ähnliche Art zu Leben haben gibt es keine
prinzipielle Trennung zwischen den verschiedenen Gruppen. Diese Jugendlichen
treffen sich täglich, trinken Alkohol, nehmen teilweise Drogen, hören
ihre Musik und wollen in Ruhe ihre Gemeinschaft genießen. Interne
Spannung gibt es dann, wenn Politik mit ins Spiel kommt. Dann steht nicht
mehr die „Ruhe“, sondern der „Stress“ im Vordergrund,
dann wird die von ihm angestrebte Gemeinschaft von Auseinandersetzungen
und „Randale“ verdrängt.
Seine veränderte Identität hat aber nicht nur Auswirkungen auf
sein Leben in der Szene, sondern auch Konsequenzen in Bezug auf die Welt
der Eltern bzw. der Gesellschaft. Als er noch in der rechten Szene war,
standen sich zwei sich gegenseitig ausschließende Welten gegenüber.
Der Konflikt drückte sich auf der einen Seite durch das Randalieren
und auf der anderen Seite durch entsprechende Sanktionen aus. Es war die
Zeit des 'Stresses‘, für Ruhe war nur wenig Raum. Das Politische
steht somit nicht nur für das Trennende innerhalb der Szene, sondern
auch für den Konflikt mit der Öffentlichkeit. Um sein erklärtes
Ziel, nämlich „in Ruhe“ als Skin zu leben, zu erreichen,
benötigt Harry aber so etwas wie eine friedliche Koexistenz. Dies ist
ein weiterer Grund, sich nicht politisch zu betätigen, das heißt,
nicht zu randalieren. Trotz seiner Bemühungen in dieser Richtung ist
es ihm nicht möglich, den Konflikt zwischen den beiden Parteien zu
nivellieren.
Der Grund liegt darin, dass Teile der Szene und die Öffentlichkeit
auf der Basis 'falscher Bilder‘ vom Skinsein, diese Auseinandersetzung
fortführen. Beide Seiten halten an dem Bild des rechten, randalierenden
Skins fest und lassen somit die Beziehung nicht zu Ruhe kommen. Trotz seiner
veränderten Verhaltensweise sieht er sich so weiterhin als Skin sanktioniert.
Diese Ausgrenzungserfahrungen korrespondieren jetzt nicht mehr mit einem
tatsächlichen Verhalten, sondern mit einem Stigma, das ihn auf den
'bösen bösen Faschisten‘ und den Randalierer festschreibt.
Für diesen Zusammenhang finden sich zwei Beispiele. Er habe auch viele
Freunde aus Mozambique, und als er sich mit einem von ihnen unterhalten
habe, sei „so’hn alter Opa angesprungen und hat mich da angeschrien
ich solle den in Ruhe lassen.“ „Die sehn doch bloß, das
is ein Skinhead, das ist ein Neonazi.“ Er habe den Mann nur angegrinst
und nicht gewusst, was er sagen sollte. Das sei eben das von den Medien
verbreitete „falsche Bild“.
Ein anderes Beispiel bezieht sich auf die Sicherheitsmaßnahmen beim
Fußballspiel. Aufgrund seines Aussehens würde er zum Sondereingang
geschickt und dort von oben bis unten abgetastet. Außerdem müsse
er vorm Spiel seine Stiefel in einen Schrank einschließen und barfuss
ins Stadion gehen, „bloß weil du kurze Haare hast, ist doch
Scheiße.“ Auch wenn er sich ärgert, so versucht er doch
diesen Problemen aus den Weg zu gehen, indem er sich z.B. von den Hools
distanziert und in „ganz normalen Klamotten“ zum Spiel kommt.
Harry möchte also voll in die Szene integriert sein, aber gleichzeitig
auch ein harmonisches Verhältnis zur Umgebung haben. Er kommt aus einer
rechten Gruppierung, will diese Freunde behalten, lehnt aber gleichzeitig
deren Politik ab. Als Mitglied einer stark von Ausgrenzungsprozessen bestimmten
Szene will er gleichzeitig die Konflikte nach Außen nivellieren. Dies
ist ein Spannungsfeld, das viel mehr von seiner Person verlangt als noch
die eindeutige Zuordnung zur rechten Szene und die Abgrenzung zu den Eltern.
Annäherung an die Eltern
Als sich im Alter von 19 Jahren seine Freundin von ihm trennt, ist Harry
klar, dass er Konsequenzen ziehen muss. Er zieht zu einem engen Freund in
dessen Wohnung. Indem er weniger trinkt und fast keine Drogen mehr nimmt,
distanziert er sich nicht nur räumlich von der Szene, sondern auch
in seiner Lebensweise.
Er nähert sich in dieser Zeit der Welt der Eltern wieder an. So habe
er sich „sogar um Arbeit bemüht“, sei auf dem Arbeitsamt
gewesen und habe in einer 'Transportfirma‘ gearbeitet. Er habe
'sein Geld‘ verdient und das sei eine „eigentlich janz
jute Zeit“ gewesen. Die Annäherung ging sogar so weit, dass er
sich sein Bedürfnis nach Nähe zu den Eltern eingestehen kann.
Weihnachten hatte er schon in Bezug auf die Vorwendezeit als Fest geschildert,
an dem er alles bekommen habe, was er wollte. Seitdem er in der Szene war,
verbrachte er Weihnachten nicht mehr zuhause. In diesem Jahr aber habe er
Heiligabend „echt vermisst“. Harry ist aber noch nicht so weit,
seinen Eltern diesen Wunsch nach Nähe einzugestehen. Er hat „och
keen Mut“ gehabt, bei seinen Eltern anzurufen, obwohl er nur 10 Kilometer
von ihnen entfernt war. Gleichzeitig wird die Annäherung noch durch
die bestehende Beziehung zu den Kumpeln erschwert. Ihnen fühlt er sich
immer noch so weit verpflichtet, dass er nicht nach Hause gegangen ist,
obwohl seine Eltern anscheinend nichts dagegen gehabt hätten.
So feiert er in einer Anlaufstelle mit anderen Straßenkindern „ne
kleene Weihnachtsfeier“, „war eigentlich och relativ jut.“
Er steht zu diesem Zeitpunkt zwischen beiden Welten, noch ist er in der
Szene verwurzelt, gleichzeitig versucht er sich der Welt der Eltern anzunähern.
Beide Welten behalten aber ihren sich gegenseitig ausschließenden
Charakter.
Kurz nach Weihnachten kommt er aufgrund der Anzeige wegen der Körperverletzung
in U-Haft. Wie schon die Tat selbst, scheinen die Inhaftierung und die Anzeige
kaum erwähnenswert, die Gerichtsverhandlung kommt in der Erzählung
gar nicht vor.
Trotzdem markiert diese Haft einen weiteren Wendepunkt in seiner Biographie.
Er ist inzwischen 20 Jahre alt und als er im Februar aus der Haft entlassen
wird, geht er nach Hause zu seinen Eltern, sagt ihnen, dass er im Knast
war und 'was so anliegt‘. Nach einer langen Zeit der Distanz
hat er seinen Eltern gegenüber nun eine Position gewonnen, die es ihm
ermöglicht, sich auch wieder offen anzunähern.
Im Gegensatz zum bisherigen Bild der Eltern, wird deren Reaktion als sehr
eindeutig dargestellt: „Die haben sich mächtig gefreut“.
Sie erscheinen als konkrete Personen mit eindeutigem Interesse an der Beziehung
zu Harry. Seine ambivalente Beschreibung und das konturlose Bild der Eltern
haben hier keine Bedeutung mehr. Während sich sein Verhältnis
zur Szene ausdifferenziert und von Widersprüchen geprägt ist,
gewinnt seine Beziehung zu den Eltern an Eindeutigkeit. Diese signalisieren
jetzt auch im Gegensatz zum früheren Desinteresse ein klares Nähebedürfnis
seiner Person gegenüber.
Er befindet sich jetzt in einer Position, die ihm erlaubt, mit seinen Eltern
über die Beziehung zwischen sich und ihnen zu verhandeln. Als Verhandlungspartnerin
wird zum erstenmal die Mutter als Einzelperson genannt. Er kann zuhause
wohnen, macht aber gleich seine Grenze ihrer Person gegenüber deutlich:
„also mit ihr möchte ich nich, um Gottes Willen, nicht mehr rumrennen.“
Er stellt Bedingungen, unter denen er bereit ist, sich verstärkt an
der Welt der Eltern zu orientieren.
Diese Übereinkunft scheint für ihn auch „ne Zeitlang“
gut gewesen zu sein, bis er sich wieder stärker in die konkurrierende
Welt der Kumpels integriert. Diese neue Zuwendung geht diesmal allerdings
nicht mit einer bewussten Distanzierung zu den Eltern einher. Ganz im Gegenteil,
auch in der Erzählung der letzten Monate bis zur zweiten Inhaftierung
im Spätsommer orientiert er sich meist an der Welt der Eltern.
So erscheint die erneute Eingliederung in die Szene als eine Art Rückfall.
Während er noch in der vorherigen Phase seine Kontaktfreudigkeit und
Anpassungsfähigkeit als positive Merkmale der Integration hervorhebt,
spricht er jetzt von der Kehrseite dieser Eigenschaften: „also, ich
bin leicht zu verleiten, würd ich mich mal so einschätzen.“
Es ist eine Schwäche seiner Persönlichkeit, dass er wieder dabei
ist, dass „der ganze Zirkus wieder los“ ging. Er wurde wieder
„janz runter“ gebracht, was letztlich zur zweiten Inhaftierung
führte. Er spricht hier wieder aus der Perspektive des Harry, der vernünftig
von außen analysierend entscheidet, was für ihn gut ist und was
nicht.
In diesem Zusammenhang berichtet er auch von der Straftat, die er nach der
erneuten Integration in die Skinszene begangen hat. Diese Erzählung
unterscheidet sich wesentlich von der Erwähnung der ersten Gewaltstraftat.
Die damalige Körperverletzung führt er nur ganz kurz als Beleg
seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene an. Gleichzeitig genügt
ihm diese Zugehörigkeit als Erklärung der Gewalttat. Gewaltstraftaten
und die Zugehörigkeit in der rechten Skinheadszene sind für ihn
ein selbstverständliches Paar.
Aber gerade auf diese Konstellation kann er sich jetzt nicht mehr berufen.
Er hat inzwischen eine Ich-Identität entwickelt und seine Einstellung
zur rechten Szene und zur Gewalt grundsätzlich geändert. Er kann
nicht mehr einfach auf die Gruppe verweisen, sondern muss auch seine eigene
Person und Verantwortung thematisieren.
Einerseits nimmt er für sich in Anspruch, sich auch gegen die Mehrheit
der Kumpels gegen Randale auszusprechen und gleichzeitig gesteht er zu,
gemeinsam mit anderen eine räuberische Erpressung begangen zu haben.
Dieser Widerspruch ist ihm durchaus bewusst und er entwickelt mehrere Theorien,
die seine Verantwortlichkeit relativieren.
So führt er in einer triebtheoretischen Erklärung gerade seine
lange Gewaltabstinenz als Begründung an. Er habe fast zweieinhalb Jahre
keine Straftat begangen und in dieser Zeit 'staue‘ sich einiges
im „Unterbewusstsein“ auf. Wenn er dann einen Blackout habe,
würde sich „da die ganze Energie und der ganze Frust“ 'entladen‘
und er würde 'voll ausflippen‘. Seine Gewalttat ist so
Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit, die er unter bestimmten Bedingungen
nicht beeinflussen oder gar verhindern kann. Er kann nur durch Alkohol-
und Drogenabstinenz verhindern, dass er einen Blackout hat, aber das würde
auch nur den inneren Druck erhöhen.
Die Verbindung zum Unbewussten wird noch dadurch verstärkt, dass er
vorgibt, sich an die Tat nicht erinnern zu können. In dieser Argumentation
stellt sich die Tat als Ausdruck des Konfliktes zwischen dem Ich und dem
Unbewussten dar. Er wird für etwas verantwortlich gemacht, das er zwar
getan hat, wobei er letztlich aber nur passiv war. Entsprechend beginnt
er diese Passage folgendermaßen: „Mir passiert eben sowas wie
ebend jetzt was ich gemacht habe nur [...]“.
Die andere Argumentation entlastet die eigene Verantwortung nicht durch
eine unkontrollierbare innere Instanz, sondern durch äußere Einflüsse.
Neben der Kontaktfreudigkeit und der Anpassungsfähigkeit erwähnt
er die leichte Verleitbarkeit als dritte Konstante seiner Persönlichkeit.
Wenn ihm jemand sagt, er könne jemanden nicht leiden, den müssten
sie jetzt umhauen, dann „denk ich nich lange groß drüber
nach“. Dies gilt wiederum im verstärkten Maße, wenn er
unter Alkohol steht. So reduziert sich letztlich wieder seine Verantwortung
auf den Konsum von Alkohol und Drogen.
Hier will er in Zukunft besser aufpassen, weil „das nächste Mal
wie gesagt schlag ich eenen tot und kriege 25 Jahre Knast und weeß
nich warum oder so“. Er möchte nicht für etwas zur Verantwortung
gezogen werden, was er nicht unter Kontrolle hat. Ihn beängstigt, dass
er sich an die Tat nicht erinnern kann und so auf das angewiesen ist, was
ihm in der Anklage gesagt wird. Er bereut die Tat nicht aus evtl. Schuldgefühlen
dem Opfer gegenüber, sondern weil sie für ihn keine „Punkte“
bringt und sich aufgrund der Sanktion negativ auf sein Leben auswirkt.
Persönliche Unreife, wie zur Zeit in der rechten Szene, führt
er jetzt nicht an. Grundsätzlich sieht er sich als verantwortlich handelnde
Person, aber aufgrund des Blackouts durch Alkohol und LSD sieht er gute
Chancen für eine „Tatverminderung“.
Neben dieser Straftat, die sich schädigend auf sein Leben auswirkt,
spricht er in Bezug auf die Zeit vor der zweiten Inhaftierung zum ersten
Mal von grundsätzlichen Nachteilen seines Lebens in der Szene. Am Anfang
sei dies Leben mit Drogen, Saufen, Partys und Konzerten seine „volle
Erfüllung“ gewesen. Über die lange Zeit habe er aber „7
oder 8 Kilo abjenommen“ und es habe ihn „gesundheitlich total
fertig gemacht“.
Positiv hebt er an dieser Zeit und dem Leben in der Szene nur seine Beziehung
zur neuen Freundin hervor. Im Gegensatz zur alten Freundin identifiziert
sie sich wie er voll mit dem Skinsein. Sie ist ein „Skinheadgirl“,
„hat och kurze Haare und trägt Stiefel alles so, genau wie ich.“
Sie trinkt und raucht zwar nicht, geht aber wie er gern auf Konzerte und
ist auch für Spaß zu haben.
Ausgrenzung
in der Phase der Entgrenzung
Nach der Phase der Distanzierung und klaren Grenzziehung stehen in dieser
Phase die Harmonisierungstendenzen im Vordergrund. Harry entwickelt eine
Ich-Identität und kann klar ausdrücken, welche seine Bedürfnisse
sind. Nicht mehr die vorgegebene Struktur der rechten Szene steht im Vordergrund,
sondern die seiner eigenen Person. Er möchte mit anderen Jugendlichen
in Ruhe die Gemeinschaft genießen können. Durch diese individuelle
Abgrenzung seiner Person von der Struktur der Szene gewinnt er eine Perspektive,
aus der die gegebenen Grenzen eher störend wirken.
Harrys primäre Grenzerfahrung in dieser Zeit ist nicht die Ausgrenzung.
Vielmehr bekommt er deutlich den trennenden Charakter einer jeden Grenze
zu spüren. Die Grenzen stehen somit als solche seinem Konzept von Gemeinschaft
und Harmonie entgegen. Sein Ziel ist nicht die Differenzierung der verschiedenen
Jugendszenen, sondern die Vereinigung aller Jugendlichen. Wenn alle Grenzen
und Konflikte in der Szene abgeschafft sind 'wird alles gut‘.
Aber auch die eindeutige Abgrenzung zur Welt der Eltern und der Gesellschaft
wird unter der neuen Perspektive relativiert. Dieser Konflikt besteht letztlich
nur aufgrund der 'falschen Bilder‘ vom Skinsein auf beiden Seiten.
Aus seiner Perspektive spricht viel für eine Annäherung an diese
Welt. So möchte er auch eine harmonische Beziehung zu seinen Eltern.
Wo er konkrete Ausgrenzung erfährt, so z.B. vor dem Fußballstadion,
reagiert er mit Anpassung. Sie ärgert ihn zwar, aber er hat auch Verständnis.
Harry will keinen Stress, und so kommt er nicht wie früher mit den
Hools in einem Bus, sondern im Privatwagen in unauffälliger Kleidung.
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