Aus- einander- setzung mit Gewalt

Die hier vorgestellte Untersuchung ‘Aus- einander- setzung mit Gewalt’ führt auf der Basis des Orgonomischen Funktionalismus eine neue Perspektive in die Gewaltdebatte ein.

Die gewalttätigen Jugendlichen und der gewaltthematisierende Mainstream werden in den spezifischen Aspekten und in der Interaktion charakterisiert.
Neben den Unterschieden wird aber auch die Identität beider Seiten herausgearbeitet.

Erst aufgrund dieser umfassenden Perspektive können Schritte aus der periodisch auftretenden Gewaltproblematik entwickelt werden.

 

Gewalttätige Ausgegrenzte

Auf der Basis autobiografische narrativer Interviews kann die Perspektive gewaltkrimineller Jugendlicher ausführlich analysiert werden.

Es werden vier 'Typen der Ausgrenzungsbearbeitung' und entsprechende Beispielbiografien präsentiert.

Ausgehend von diesen komplexen Daten wird der Weg zur zugrundeliegeden Funktion 'Ausgegrenzte Bewegung' beschrieben.

Gewaltthematisierender Mainstream

Die den Tätern gegenüberstehende Perspektive wird anhand populärer Erklärungsansätze und als selbstverständlich mittradierte Modelle thematisiert.

Insbesondere wird so der Desintegrationsansatz (Heitmeyer), die Kontrolltheorie (Hirschi), das Gewaltmonopol (Hobbes) und der Zivilisiationsprozess (Elias) analysiert.

Alle Modelle werden in ihren Eigenständigkeiten und Gegensätzen dargestellt. Darüber hinaus werden sie auf eine allen zugrunde ligende Funktion der 'Autotranszendenz' zurückgeführt.

Die Bremsung

 

 

Auf dieser Seite geht es um die Funktion, die sowohl der Perspektive der Gewalttäter als auch die des gewaltthematisierenden Mainstream zugrunde liegt.

In dieser Funktion sind sie identisch.

Diese Funktion wird insbesondere mit Hilfe verschiedener Animationen dargestellt.

Aus-einander-setzung mit Gewalt:

Harry - eine Biographie

Harry ist ein gewaltkrimineller Skin der Wert darauf legt nicht als 'rechts' zu gelten.
Er erlebte seine Kindheit in der DDR und wollte sich wie seine Eltern hier integrieren. Die Wende brachte seine Koordinaten durcheinander und anstatt wie geplant zur NVA zu gehen lebte Harry in verschiedenen Szenen auf der Straße.

Nach mehreren Körperverletzungen sitzt er nun im Jugendstrafvollzug und hat gerade von seiner Freundin erfahren, dass er Vater wird.

 

Harrys hoher Grad der Individualisierung und die Betonung der Wende als Einschnitt machten ihn zu einem interessanten Gesprächspartner.

 
 

 

Vorweg
If the kids are united

Einmal in meinem Leben hab ich mal was zu sagen,
und das will ich jetzt sagen, denn jetzt ist heute,
Liebe ist da, um genommen und genossen zu werden,
also lasst uns alles nehmen und alles genießen!
Wenn die Kids zusammenhalten, dann kann keiner sie spalten!

In dem Dreck um dich rum, was siehst du da?
Kids mit Gefühlen wie du und ich,
verstehe ihn und er wird dich verstehen,
denn du bist er und er ist du!
Wenn die Kids zusammenhalten, dann kann keiner sie spalten!

Ich will nicht abgelehnt werden,
ich will nicht abgewiesen werden,
Freiheit ist da, um deine Meinung zu sagen,
ich bin die Freiheit, wie fühlst du dich?
Sie können mir ins Gesicht lügen, doch mein Herz belügen sie nicht,
wenn wir zusammenstehn, dann ist das erst der Anfang!

If the kids are united ... (Jimmy Pursey; Harrys Lieblingslied)

 

Das Interview

 

Das Interview mit Harry fand in der U-Haft ca. 3 Wochen nach seiner Inhaftierung und einige Wochen vor seinem 21. Geburtstag statt.
Er wurde 1974 geboren und lebte ungefähr bis zu seinem 16. Lebensjahr bei seinen Eltern. Ab da lag der Schwerpunkt seines Lebens in der Skinszene. In diese Zeit fallen auch seine Gewaltdelikte, die zur Inhaftierung führten. Dieses Skinsein zeigte er auch beim Interview durch seine kurzen Haare und die entsprechende Kleidung. Im Gegensatz zu vielen anderen Skins trug er aber einen sehr gepflegten Oberlippen- und Kinnbart. Harry hatte ausgeprägte Gesichtszüge, wirkte erwachsen und machte einen sympathischen Eindruck. Während des Gespräches kam es oft zum Blickkontakt und er wirkte zwar nervös aber zugleich offen.

Es spricht vieles dafür, dass er viele Gegebenheiten nicht einer objektiven chronologischen Zeiteinteilung entsprechend einsortiert. Es gibt Überschneidungen und Zeitangaben, die sich gegenseitig ausschließen. Trotzdem bietet er eine relativ klare chronologische Struktur seiner Biographie.
Sie ist geprägt von zwei Brüchen in seinem Leben: einmal die politische Wende 1989/90 und zum zweiten die aktuelle Inhaftierung und die Information von seiner Freundin, dass er Vater wird. So entstehen drei Bereiche: die Vorwendezeit (nicht gleichzusetzen mit der Kindheit), die zukünftige Zeit, die in der Inhaftierung ihren Ausgangspunkt nimmt und die Zeit zwischen der Wende und dem Beginn der Zukunft. Hinzu kommt die aktuelle Situation, die von zu nutzenden Startzeichen geprägt ist. Abgesehen von den jeweiligen Zeiträumen sind natürlich die Brüche von besonderem Interesse.

Auch auf der Ebene seiner sozialen Bezüge gibt es eine relativ klare Struktur. Die Trennung zwischen dem sozialen Nahraum und dem institutionellen Bereich. Im sozialen Nahraum sind vor allem die Eltern wichtig und im institutionellen Bereich muss zwischen der DDR Zeit und der aktuellen Situation differenziert werden. Der dritte Bereich, der eine Zeit lang die genannten Bereiche in sich integrieren kann, ist der der Kumpels, seine Szene.
Die Struktur auf der sozialen Ebene steht wiederum in einer engen Beziehung zur zeitlichen Einteilung. Entsprechend dieser Struktur wird Harry im Folgenden vorgestellt.

 
   
Die Vorwendezeit
   
Eltern

Harrys Erzählung bezüglich des Lebens im sozialen Nahraum ist von Ungewissheiten, Ambivalenzen und Zweifeln geprägt. So beginnt er seine Darstellung mit dem oft wiederkehrenden Thema der häufigen Umzüge während seiner Kindheit. Er zählt vier Städte auf, in denen er gelebt hat. Um den Charakter der Nichtsesshaftigkeit noch zu unterstreichen betont er auch noch die kurzen Aufenthaltszeiten an den jeweiligen Orten: „wir haben so manchen Standort gerade mal ein halbes Jahr gewohnt, da sind wa schon wieder zum nächsten gezogen.“ Durch Formulierungen wie „so die janzen Ecken da“ legt er darüber nahe, noch mehr Umzüge anzunehmen. Das „viel umgezogen“ wird zum zentralen Merkmal seiner Kindheit, „also so’hn hin und her“ zum Charakteristikum seiner räumlichen Verortung.
Dies ändert sich, als er ungefähr 10 Jahre alt ist: damals vor 10 Jahren sind sie in N „eben ansässig“ geworden. Aber auch dieser Situation ist er sich nicht ganz sicher. Er geht davon aus, dass „wir wahrscheinlich och“ da wohnen bleiben werden. Das „wir“ wird gleich darauf eingeschränkt: „zumindest meine Eltern“, im weiteren Zusammenhang schwankt er zwischen dem 'wir‘ und dem 'die‘.
Abhängig waren die häufigen Umzüge von den beruflichen Veränderungen der Eltern. Sein Vater „war so ziemlich der eenzigste“ gewesen, der Lehrlinge ausbilden konnte, in einem Beruf, „wo es eigentlich nich allzuviele Ausbilder gab.“ Als Harry diesen Zusammenhang konkretisieren will, wird ihm klar, dass er ihn selbst nie ganz verstanden hat, damals als Kind habe er es nicht richtig begriffen und später habe er nie gefragt.
Auch wenn der Vater im Gegensatz zur Mutter einen Meister gemacht hatte und somit wahrscheinlich die treibende Person bezüglich der Umzüge war, so fällt doch auf, dass die Eltern in den wesentlichen Aussagen nicht differenziert werden. Insbesondere auf dieser beruflichen Ebene, die bestimmend für die äußere Struktur des Familienlebens war, erscheinen die Eltern als Einheit: „Die haben bis jetzt immer alles zusammen gemacht.“ Dieser gestaltenden Einheit steht Harry als einzelnes passives Anhängsel gegenüber, auch seine Brüder haben in diesem Zusammenhang keine Bedeutung. Da die Umzüge immer beruflichen Erfordernissen folgten, scheinen auch die Eltern von äußeren Bedingungen in der Gestaltung abhängig. Auch wenn er diese Erklärung der Eltern nie ganz verstanden hat, so hat er sie doch als Theorie für seine Kindheit akzeptiert.

Harry hat unter diesem „Umhergeziehe“ sehr gelitten, es hat ihn „janz schön gequält“. Er musste immer neue Freunde suchen und hatte Schwierigkeiten sich in der jeweils neuen Schulklasse zu integrieren: die Kinder waren gehässig und gemein.
Aber auch diesen schlechten Erfahrungen gewinnt er etwas Positives ab: er ist kontaktfreudig geworden und hat gelernt, sich schnell anzupassen. So erklärt er sich, „dass ich so ganz schnell mit jemanden janz jut klarkommen kann.“
Neben der schlechten räumlichen Verortung gibt es noch zwei weitere Punkte, die seine Beziehung zu seinen Eltern und das Familienleben charakterisieren: er hat „ebend alles jekricht“ und wurde „relativ selten mal bestraft“. Genauer gesagt thematisiert er seine Beziehung zu den Eltern über deren Erziehungsstil in zwei wichtigen Punkten. Bei beiden Themen geht es um die Frage der Grenzziehung durch die Eltern. Es war für ihn eine Frage der Zeit und des 'nervens‘ bis die Eltern nachgaben und ihm das gegeben haben, was er haben wollte. Dieses Nachgeben erscheint als Weichheit, als Konturlosigkeit der Eltern.

Ähnliches gilt für die geringe Sanktionierung. Er zählt ausführlich sein Fehlverhalten in der Schule auf und sagt anschließend, dass seine Eltern „och relativ wenig dazu gesagt“ hätten „also im Prinzip gar nüscht eigentlich“. Diese Nichtreaktion ist es, was ihn verunsichert und ihn mit ambivalenten Gefühlen konfrontiert. Einerseits war es gut für ihn, nicht hart sanktioniert zu werden, andererseits ist er enttäuscht von den Eltern, vermisst die Grenzziehung und führt das als eventuellen Grund seiner Kriminalität an.
Es gibt kaum eine Aussage zu seinem Familienleben, die er nicht relativiert. Insbesondere die Eltern erscheinen konturlos, ohne Eindeutigkeiten, auf die er Bezug nehmen könnte.

 
DDR Institutionen

Ganz anders als seine Eltern beschreibt er die Institutionen der DDR. Sein ganzer Erzählstil verändert sich, so kommen kaum noch Modalisierungen vor. Entsprechend erscheinen die Institutionen Schule, Junge Pioniere, FDJ, NVA wesentlich konkreter, sie haben eine klare Kontur und werden eindeutig positiv bewertet.
Diese positive Bewertung heißt allerdings nicht, dass er hier keine Schwierigkeiten hatte. Ganz im Gegenteil, gerade in der Schule hatte er große Probleme. Dies ist der Ort, an dem er die Nachteile der häufigen Ortswechsel deutlich zu spüren bekommt: die Mitschüler waren gehässig und gemein. Er wird aber nicht müde zu sagen, dass sich die Lehrer in dieser Situation viel Mühe gegeben haben, „das schon cool zu machen“. Gerade diese Fürsorge durch die Lehrer wird er später vermissen.

Auch die Probleme, die er aufgrund seines Verhaltens ('nicht der Leistung‘) in der Schule zeitweise bekommen hat, mindern nicht sein positives Bild der Schule. Sie sind für ihn vielmehr konkrete Sanktionen einer klaren Struktur. Wichtiges Kennzeichen der Struktur war der Gemeinschaftssinn, der gute 'Zusammenhalt‘: „Da sprach ma nich über een Schüler [...], sondern von der ganzen Klasse“. Die Schule, FDJ und die Pioniere fasst er zu einem System zusammen. Die Pioniere und die FDJ seien sehr gut organisiert gewesen, so dass viel weniger als heute über die Stränge geschlagen hätten. Er engagiert sich hier in den Organisationen (Gruppenrat, Freundschaftsrat) und fährt mit ihnen nach Polen und in die Tschechei. Es war „einfach perfekt gewesen“. Fast trotzig betont er mehrfach, dass es ihm gefallen hat, dass er da Spaß dran gehabt habe.
Zentrale Punkte sind im Bezug auf dieses System, dass es organisatorisch einfach perfekt war, die Strukturen der einzelnen Organisationen gut ineinander übergingen und klar zu erkennen waren. Beide Seiten dieser sozialen Kontrolle, sowohl die Reglementierung als auch die Schaffung von Sozialität, sind ihm wichtig. Es gab immer Personen, die sich Mühe gaben, bei der Integration in diese Strukturen zu helfen. Die staatlichen Institutionen bildeten so den Rahmen, in dem er sich eindeutig orientieren konnte. Auch zu den Vertretern dieser Institutionen hatte er eine klare Beziehung, die von eindeutigen Interessen geprägt war.

Diese Unterschiede zu der Welt der Eltern beinhalten aber nicht zwingend einen Widerspruch zwischen beiden Welten. Es gibt keine Hinweise auf eine Distanz der Eltern zu den DDR Institutionen; sie scheinen sich in ihrem Beruf engagiert zu haben, ansonsten gibt es aber auch keine Anzeichen für eine enge Verbundenheit der Eltern mit dem System. Wie meistens, so schildert er sie auch in Bezug auf die DDR als eher indifferent.

 
Ausgrenzung in der Vorwendezeit

Bei Ausgrenzung wird jemand jenseits einer Grenze verortet. Dieser Prozess ist am klarsten bei eindeutigen Grenzen zu identifizieren.
Aber gerade diese sind für ihn im sozialen Nahraum der Familie kaum erkennbar. Damit werden aber auch Kategorien wie Nähe und Distanz zu kaum erfahrbaren Begriffen. Er war die Kindheit über wahrscheinlich immer bei den Eltern, entzog sich nicht deren Kontrolle, trotzdem wäre es falsch von einer engen Anbindung an die Eltern zu sprechen. Seine Beziehung zu ihnen kann am besten als ein ungewisser Schwebezustand zwischen Nähe und Distanz beschrieben werden. An einigen Stellen zeigt er darüber eine Enttäuschung, die er den Eltern aber wiederum nicht konkret vorwirft. Ausgrenzung, die als solche erlebt wird, scheint in dieser Welt nicht möglich, eindeutige Nähe bzw. Integration aber auch nicht.

Anders wiederum im Bereich der staatlichen Institutionen. Hier erlebt er die konkrete Ausgrenzung durch die Mitschüler, die ihn als Fremden ausschließen. Gleichzeitig gibt es aber die Lehrer, die diesem Prozess entgegenwirken. Durch seine Anpassungsfähigkeit gelingt die Integration in soweit, dass er in den Institutionen Funktionen übernehmen kann. Die erlebte Ausgrenzung, v.a. als Reaktion von Kindern auf sein Anderssein, kränkt ihn, aber sie ist begründet, eindeutig und überwindbar, und sie ist Ausdruck dafür, dass seine Person in einer konkreten sozialen Beziehung als solche wahrgenommen wird.

 
Traditionelle Lebensplanung

Harry wurde in der Vorwendezeit klar auf ein traditionelles Leben in der DDR vorbereitet. Die Eltern treten dabei als Sozialisationsinstanz in den Hintergrund, die staatlichen Institutionen sind demgegenüber mit ihren klaren Strukturen und ihrem Bemühen um Integration wesentlicher. Beide Welten werden von ihm sehr unterschiedlich charakterisiert, wobei die klare Struktur versus die Konturlosigkeit der Eltern als deutlichstes Unterscheidungsmerkmal erscheint.
Abgesehen von ein paar Überschneidungen stehen so beide Welten eher parallel zueinander. Von den Eltern wird er materiell versorgt, aber aufgrund deren nachgiebigen Weise mit Grenzen umzugehen, kann er von ihnen keine Strukturierung seines Lebens erwarten. Ganz anders bei den staatlichen Institutionen. Hier lernt er soziale Nähe in Form von 'Zusammenhalt‘ kennen und hier trifft er auf Strukturen, in denen er sich gerne engagiert.

Die Inhalte, aber auch die Anforderungen der Strukturen sind eindeutig, er soll sich hier integrieren, sich und sein Leben an diese Strukturen anpassen. Rückblickend hebt er gerade diese Eindeutigkeit positiv hervor: „Da konntest du gar nichts anderes denken, weil es gar nichts anderes gab. Drum eben das war einfacher.“ Er habe sich damals nicht „verarscht“ gefühlt. Die Eindeutigkeit wird hier mit Ehrlichkeit assoziiert. So ist auch verständlich, warum er mehrfach seine Anpassungsfähigkeit positiv hervorhebt. Dies ist die einzige erwähnte positive Eigenschaft aus der ambivalenten Welt der Eltern, die er nutzen kann. Der Integrationsmodus der Kindheit ist deutlich sichtbar: Anbindung und Anpassung.

Im System der staatlichen Institutionen wird nun auch seine Lebensplanung konsequent vorangetrieben. In der 8. Klasse war er in der Kaserne und ihm ist klar, dass er sich bei der NVA verpflichten will. Er bekommt auch eine Zusage: „Die ha’mm jesagt, des wird alles jut und alles klappt“. Sie zeigen ihm sogar Möglichkeiten auf, dort eine Lehre zu machen. Nach der Jugendweihe „war da noch mal jemand“, der ihm sagt, „das klappt alles, das wird wunderbar und wir freuen uns“. Die konventionelle Lebensplanung in einem traditionalen System scheint gesichert. Nach der Schule, den Pionieren und der FDJ geht er zur NVA, macht da seine KFZ Lehre und dann die Ausbildung zum Unteroffizier „und dann hab ich meine Ruhe bis ebend meine Tage beendet sind“. Dies ist ihm so selbstverständlich, dass er sich keine Gedanken über alternative Lebensläufe macht. Die Eindeutigkeit der Strukturen spiegelt sich so in seiner Lebensplanung wieder. Was er bei seinen mobilen Eltern vermisst, scheint er über Konformität zu erhalten: Klarheit, Berechenbarkeit, soziales Eingebundensein und Ruhe.

 
   
Die Wende – „da bricht ne Welt zusammen“

Die Wende 1989/90 trifft Harry völlig unvorbereitet und zwar in dem Bereich, in dem er sich sicher gefühlt hatte, der seinem Leben die Struktur gab. Mit den DDR Institutionen verliert er nicht nur die Sozialisationsinstanzen, die ihm seine Lebensplanung nahe gelegt hatten, sondern auch die Strukturen, in denen er sie hätte verwirklichen können. Für ihn war die Wende ein „Schock“, „da bricht ne Welt zusammen“.
Die Wende auf der Makroebene wird so auch auf der Mikroebene zum zentralen Wendepunkt in Harrys Leben. Mit dem Zusammenbruch der Welt der staatlichen Institutionen bricht auch ein Teil seiner Identität und wesentliche Aspekte seiner Lebensplanung zusammen. Er konstruiert sowohl auf der gesellschaftlichen als auch auf der persönlichen Ebene ein eindeutiges Vorher und Nachher.

Konkret schildert er am Beispiel der Schule, wie er die Wendezeit in der 8./9. Klasse erlebt hat: Sie brach „uf eenmal“ in den Schulalltag ein und veränderte dort grundlegend die Situation. Am deutlichsten wird dies an der veränderten Bedeutung der Lehrer und Vertrauenspersonen. Sie waren nicht mehr die Personen, die sich um ihn gekümmert haben, die die Integration vorantrieben, sondern Personen, die mit den neuen Strukturen große Schwierigkeiten hatten, die „um ihren Arbeitsplatz jezittert“ haben. Die Personen, die vorher einen wichtigen Beitrag zur Herstellung der Gemeinschaft leisteten und ihm eindeutig sagten, was zu tun war, sind aufgrund der Wende verunsichert und gezwungen, nur noch an sich zu denken.
Die eindeutige Struktur zerfällt, die Lehrer haben sich „von uns abgewandt.“ Er hat dabei Verständnis für die Ängste und Probleme der Lehrer und deren Verhalten. Sie sind, wie er, Opfer eines von außen gesteuerten Prozesses. Die Schule schließt er noch ab und ist auch ganz zufrieden mit sich, dass er die 10.Klasse mit einer Zwei beenden kann. Dieser relativ hohe Grad der Schulbildung ist unter unseren Probanden weit überdurchschnittlich.

Für seinen Lebensentwurf katastrophal war demgegenüber die Ablösung der NVA durch die Bundeswehr. Während die NVA soziale Nähe signalisierte, fühlt er sich von der Bundeswehr abgelehnt. Er bekommt einen Brief, in dem ihm gesagt wird, dass nicht mehr die Möglichkeit bestehe, ihn „aufzunehmen“. Auch wenn nicht ganz klar ist, wann und warum er diesen Brief erhält, so assoziiert Harry ihn eindeutig mit der Wende. Wie diese kommt er für ihn von außen und unvermittelt. Der Wechsel, warum das nicht mehr gilt, was vor kurzem noch galt und warum es jetzt neue Anforderungen gibt, ist ihm unverständlich. Dass etwas Selbstverständliches einfach verschwindet ist für ihn nicht nachvollziehbar.
Was sich auf institutioneller Seite als krasser Bruch in seiner Biographie darstellt, hat in der Welt der Familie für ihn keine Bedeutung. Hier wird bezüglich der Wende weder ein Bruch markiert, noch auf Kontinuität hingewiesen.

 
   
Die Zeit zwischen der Vergangenheit und der Zukunft

Wie die Überschrift schon ausdrückt, wird die folgende Phase als eine Interimszeit verstanden. Es ist die Zeit, nachdem Harrys Leben aufgrund der Wende durcheinander geraten ist und bevor er wieder einen neuen Lebensentwurf vorlegt.
Die Wende erlebte er im Alter von 16 Jahren und den zweiten Lebensentwurf präsentiert er kurz vor seinem 21. Geburtstag. Diese Phase umfasst demzufolge einen Zeitraum von 4-5 Jahren. In dieser Zeit fängt er eine Lehre an, integriert sich in eine rechte Skinszene, distanziert sich wieder von ihr, reißt von zuhause aus, hat mehrere Freundinnen, macht mehrere Hilfsarbeiterjobs, integriert sich in der Großstadt in eine andere Skinszene, begeht mehrere Straftaten und kommt aufgrund derselben zweimal in Untersuchungshaft.

Schon allein dieser grobe Überblick zeigt den Kontrast zwischen seiner Lebensplanung, die auf Konstanz und Ruhe aufbaute und dem tatsächlichen Leben. Dieses Leben ist sehr unruhig und komplex und nicht mehr mit zwei Bereichen (Eltern, Institutionen) charakterisierbar. Seine Lebenswelten differenzieren sich aus und neue kommen hinzu. Teilweise gleichzeitig gibt es aber bei Harry auch die Tendenz, dieser Ausdifferenzierung entgegenzuwirken.
Um diesem gerecht zu werden, gliedere ich die Phase noch einmal in zwei Bereiche. Diese Phasen können zeitlich nicht präzise getrennt werden, dazu sind die Prozesse zu komplex und seine Zeitangaben zu widersprüchlich. Ganz grob kann aber davon ausgegangen werden, dass der Beginn der zweiten Phase auf den Zeitpunkt drei Jahre nach der Wende datiert werden kann, als Harry ungefähr 19 Jahre alt war.

 
Differenzierung und Distanzierung

In Harrys Biographie laufen zwei schwierige Übergänge zeitgleich ab: Zum einen die Wende und zum anderen der Übergang in die Arbeitswelt. Der geplante Übergang in die Arbeitswelt kann von ihm aufgrund der Wende nicht vollzogen werden und er ist gezwungen, sich neu auszurichten. Das Neue hat dabei eine mehrfache Bedeutung: einmal muss er den alten Plan verwerfen und durch einen neuen ersetzen, zum anderen kann er aufgrund der Wende nicht auf eine ihm bekannte gesellschaftliche Struktur zurückgreifen. Die Regeln der neuen Strukturen sind ihm fremd und er erlebt sie seiner Person gegenüber als ablehnend. Wesentlich ist aber darüber hinaus, dass seine eigene gesellschaftliche Position auch neu für ihn ist: er ist nicht mehr in klare Strukturen eingebunden, die ihm die schwierige Umorientierung vorgeben würden.

Es gibt aber auch Kontinuität in seinen sozialen Beziehungen. Dies gilt vor allem in Bezug auf die Eltern, aber auch in Bezug auf Schulfreunde, die allerdings bis zu diesem Zeitpunkt keine große Rolle in seiner Erzählung spielten.
Sein Koordinatensystem hat sich also verändert und ausdifferenziert. Die alte Schule gibt es nicht mehr, die Repräsentanten des alten Systems, die Lehrer haben sich grundsätzlich geändert: sie sind verunsichert, denken nur noch an sich und kümmern sich nicht mehr um ihn. Die neue Schule verliert so ihre Autorität und Attraktivität. Gleichzeitig treten die Mitschüler als Personenkreis hervor, die wie er auf Distanz zur Schule gehen.

So entsteht die neue Konstellation, die schon in den ersten Sätzen bezüglich dieser Phase erkennbar ist: „Da jing des denn einfach los, das ich da jesagt habe, für was denn eigentlich. Dann bin ich eben früh’s aus dem Haus jejangen, aus meinem Elternhaus und bin denn zum Kumpel jejangen und ham Party jefeiert, also sind nich in die Schule jejangen.“ Bis zu diesem Zeitpunkt gab es zwar auch zwei unterschiedliche Welten, aber soweit sie sich nicht überschnitten lagen sie parallel zueinander. Jetzt sind die Welten nicht mehr selbstverständlich, sondern hinterfragbar und gegeneinander ausspielbar. Im Wesentlichen bewegt er sich so in den drei Bereichen: Familie, neue Institutionen, zu denen auch die Arbeitswelt gehört, und Szene.

Eltern und Staat

Die Kumpels und Harry ignorieren die Regeln, klauen Mopeds usw. Sanktionen des Staates bezüglich dieser kleineren Delikte muss Harry aber nicht fürchten, da sein Vater selbstverständlich zahlen würde. Der Konflikt Harry ? Staat würde also sofort durch den Vater entschärft.
Dieses Verhalten erlebt Harry aber weder als Ausdruck der Distanz des Vaters gegenüber dem Staat, noch als Ausdruck der Nähe zum Sohn in diesem Konflikt. Ähnlich wie die unklaren Grenzziehungen in der Kindheit wird dies Entkräften der staatlichen Sanktionen durch den Vater diesem eher als Schwäche ausgelegt. Es erscheint als ein Verhalten, auf das er sich verlassen konnte, weil sein Vater nun einmal so ist.
Dies hat aber auch Auswirkungen auf sein Bild vom Staat. Auch er scheint nicht in der Lage zu sein, klare Grenzen zu ziehen. Im Gegensatz zum DDR- Staat, der durchaus hart sanktionieren konnte, trägt das neue System ähnliche Züge wie seine Eltern. Dies wird später bei der Thematisierung der Polizei noch deutlicher. Die Nähe zwischen dem neuen System und den Eltern wird noch dadurch verstärkt, dass sich die Eltern gut in die neue Struktur integrieren können: „mein Vater ist mehr so der Gewinner von der ganzen Sache geworden. [...] Dem geht es gut also der freut sich. [...] Och so politisch gesehen, der is in der SPD und so richtig weit gekommen zur Zeit, dem geht es eigentlich gut.“

Während seine Lebensplanung durch die Wende zerbricht, integrieren sich seine Eltern in das neue System und ihnen geht es gut. Eltern und die neue Struktur nähern sich für ihn an, so dass sich seine Distanz nicht nur auf das neue System bezieht, sondern auch auf die Eltern ausdehnt. Es entstehen wieder zwei Lebensbereiche: auf der einen Seite die Eltern und die neuen Strukturen und auf der anderen Seite die Welt der Kumpels. Die Eltern werden zu Repräsentanten des Systems und dieses übernimmt charakteristische Merkmale der Eltern. Demgegenüber ist die Welt der Kumpels von den Freunden aus der alten Zeit geprägt, die auf Distanz zur neuen fremden Welt gehen.
Dafür, dass Harry nach wie vor bei seinen Eltern wohnt, erzählt er nur sehr wenig über das Leben mit ihnen. Nachdem klar war, dass sein ursprünglicher Lebensentwurf so nicht verwirklicht werden konnte, dass bei der Bundeswehr zumindest eine fertige Ausbildung erwartet wird, scheint zumindest sein Vater von ihm entsprechende Schritte erwartet zu haben. Aber auch außerhalb der Familie scheint die Situation, dass er zuhause ist, während sein Vater zur Arbeit geht, negativ aufgefallen zu sein („is natürlich klar das da was rumgemobt wird“).
So beginnt er wahrscheinlich einige Monate nach dem Schulabschluss eine Lehre zum Chemielaboranten. In der Schule war er sehr gut in Chemie gewesen, es interessierte ihn und so konnte er es sich auch vorstellen, dies beruflich zu machen. Schon bald nach Beginn wurde ihm aber klar: „das war absolut nicht das, was ich mir vorjestellt habe. Ich fand’s absolut zum kotzen!“

Interessant sind dabei die formulierten enttäuschten Erwartungen: Es ging nicht mehr um die Frage, inwieweit er durch die Arbeit in feste Strukturen integriert wird, welche Aufstiegschancen er hat bzw. welche Sicherheiten sie ihm für die Zukunft bieten, also alles Kriterien, die noch vor der Wende wesentlich waren. Jetzt bemängelt er, dass die Lehre zu eintönig gewesen sei, dass er drei Wochen lang jeden Tag das gleiche machen musste, dass ihm das „zu blöd“ gewesen sei. Außerdem hätte er auch noch 'Putzfrau spielen müssen‘. Die konkrete Arbeit gefiel ihm nicht, er fühlte sich unterfordert, gelangweilt und unter seiner Würde beschäftigt. Außerdem wollte er mehr Geld verdienen, nach der Wende sei alles teurer geworden. Er bricht die Lehre nach drei Monaten ab und will lieber mit Hilfsarbeiterjobs 1400,- - 1500,- DM verdienen.

Kumpels

Zu verstehen ist Harry Situation zu diesem Zeitpunkt aber nur, wenn man gleichzeitig die Integration in die Welt der damaligen Kumpels mit einbezieht.
Wie oben erwähnt ist Harry schon zur Schulzeit mit Freunden zusammen, die wie er die Zeit bei Eltern und Schule zugunsten der Freizeit und der Gemeinsamkeit zurückdrängen. Hier beginnt auch seine kriminelle Karriere mit „so’ne kleene Dinger“, eben den oben genannten Diebstählen. Für die Karriere, von der er berichten will, scheinen diese Delikte nicht voll gültig zu sein. Es waren Delikte, für die es nur Geldstrafen gab, für die er nicht hätte aufkommen müssen. Da er in diesem Segment teilweise im Konjunktiv spricht, ist auch nicht klar, ob er tatsächlich zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, oder ob er nur darauf hinweisen wollte, dass er sich des Verhaltens des Vaters sicher war.
So setzt er einen zweiten Markierer: „aber wie jesagt eben es ging los, mit Schlägereien und so“. Im nächsten Satz folgt auch gleich eine Begründung für diese Delikte: „War damals ebend mehr in der rechten Szene drinne so.“ Schlägereien erscheinen als Normalität für die rechte Szene. So erklärt er auch nicht, warum es in dieser Szene zu den Körperverletzungen kommt, sondern warum er in der rechten Szene war. Quasi als Entschuldigung führt er an, dass er damals erst 16 Jahre alt war und dass in der Gruppe Ältere waren.

Wie in den DDR Institutionen ist in der Szene seine Anpassungsfähigkeit gefordert, die mit Integration in eine eindeutige Struktur und entsprechenden sozialen Kontakten belohnt wird. Die Älteren sagen ihm: „Wenn Du mitmachen willst, dann musst Du Dir die Haare rasieren, Stiefel anziehen, dann kannste mitkommen, so ungefähr.“ Er folgt dieser Integrationsaufforderung schon weil er die Personen alle von der Schule her kennt, die damals in die rechte Szene gegangen waren. Er akzeptiert die Autorität der Älteren und deren Ideologie. Er betont mehrfach, dass er das tatsächlich damals für richtig gehalten habe, was er aus heutiger Perspektive selbst für begründenswert hält. Im Gegensatz zu heute sei er damals noch nicht so weit gewesen, sich eine eigene Meinung zu bilden: „War ja noch nicht soweit, war ja noch nicht zu erreichen des Ding, noch nich, war nich jeplant, was man selber für richtig hält.“

In dieser Szene herrschte das Selbstbild, Opfer gesellschaftlicher Prozesse zu sein und ihm wurde gesagt, dass die Ausländer daran schuld seien. Er stimmt dieser Interpretation wie selbstverständlich zu, obwohl er in mehrfacher Hinsicht gegenüber seinen Kumpels privilegiert ist. So hat sein Vater im Gegensatz zu den anderen nicht seinen Job verloren und er erlebt zuhause im Gegensatz zu seinen Kumpels keine Einschränkung durch eine harte Grenzziehung. Wenn seine Kumpels um 21.00 Uhr von der Disco zurücksein mussten, so hat sein Vater noch nicht einmal was gesagt, wenn er um 24.00 Uhr nach Hause kam. „Hausarrest oder sowas, wie andere kannt ich überhaupt nich“
Dieser Zusammenhang macht die ambivalente Position von Harry zu dieser Zeit am deutlichsten. Er lebt in zwei Welten, die sich nicht nur unterscheiden, sondern in bestimmten Regeln sogar gegenseitig ausschließen. In der einen Welt ist die geregelte Arbeit ein hoher Wert und er muss sich mit dem Druck des Vaters auseinandersetzen, etwas in diese Richtung zu tun und in der anderen Welt ist schon die geregelte Arbeit des Vaters ein Integrationshemmnis.
Die Kumpels leiden unter den Sanktionen der Eltern, während er eher klare Strukturen vermisst. Er hat das Verhalten seiner Eltern nie verstanden und so kommt es über diesen Zusammenhang zu einem offenen Konflikt zwischen den beiden Welten.

Eltern und Kumpels

Er berichtet von dem Aufeinandertreffen der zwei Welten an zwei Stellen im Interview aus verschiedenen, aber ähnlichen Perspektiven. Zum einen diskutiert er so die positiven und negativen Seiten des aus seiner Sicht lockeren Erziehungsstils vor allem seines Vaters. Wie schon in der Vorwendezeit ist er in dieser Frage ambivalent: „eigentlich“ sei es für ihn gut gewesen, „aber vielleicht hätt’s nich so sein sollen.“
Es stehen sich hier zwei Perspektiven gegenüber, einerseits die Sichtweise von Harry, der einen konkreten Nutzen aus dem Umgang zieht, zum anderen die Sichtweise eines außenstehenden Analysanden, der abstrakt beschreibt, welche Folgen der Erziehungsstil des laissez faire hat. Entsprechend mischen sich seine Erzählperspektiven. Wenn 'man‘ nicht klar sanktioniert wird, nutzt 'man‘ die Situation „eben immer mehr“ voll aus. Als seine Eltern in den Urlaub gefahren waren, habe er zuhause Partys gefeiert und das Haus unaufgeräumt mit den Kumpels verlassen. Um die Grenzüberschreitung noch zu verdeutlichen führt er aus, dass die Bude auf dem Kopf gestanden hätte und der Fernseher „vielleicht“ noch geklaut gewesen sei. Rätselhaft war ihm gewesen, dass der Vater dazu kaum etwas gesagt hatte.

An einer anderen Stelle des Interviews berichtet er von seinen vermeintlichen Grenzüberschreitungen in Zusammenhang mit der Ablehnung durch die Bundeswehr. Er war sich völlig sicher, dass er eine Laufbahn beim Militär machen konnte und plötzlich kam der ablehnende Bescheid von der Bundeswehr.
Im Anschluss an dieses Segment verweist er als Reaktion auf diesen Bruch, dass er eine Zeit lang versucht habe, sein eigenes Leben zu leben, unabhängig davon, ob seine Eltern damit einverstanden waren oder nicht. So nimmt er einfach das Wohnzimmer mit seinen Kumpels in Beschlag und beobachtet seine Eltern. Diese verlassen den Raum. Er wird immer rücksichtsloser, was aber auch nicht zu der erwarteten Reaktion der Eltern führt. Jetzt hat er aber für die erlebte Resonanzlosigkeit der Eltern eine eindeutige Erklärung: „für die bin ich eben völlig gleichgültig, weil die sagen zu mir kaum noch was.“
Durch die Integration in die Szene hat er so viel Distanz zu den Eltern aufbauen können, dass er sich seinen Unmut über sie zugestehen kann und entsprechende Konsequenzen zieht. Er reißt von Zuhause aus und geht zu seinen Kumpels. So zieht er in der Beziehung zu den Eltern eine deutliche Grenze und gibt ihr so eine Struktur, die er lange vermisst hat. Da jetzt der Bruch mit dem von der Gesellschaft privilegierten Vater offen vollzogen ist, ist auch die Position von Harry in der rechten Skinszene eindeutiger.

Seine Charakterisierung dieser Szene ist von zwei widersprüchlichen Tendenzen geprägt. Einerseits war er damals dort integriert und vertrat auch die entsprechende Ideologie. Andererseits distanziert er sich inzwischen vom Rechtssein und will dem Bild entgegenwirken, Skins seien rechts. Dies hat zur Folge, dass, obwohl er sich mehrere Jahre in dieser Szene bewegte, er nur wenige Informationen über sein Leben dort preisgibt. Das narrative Erzählschema wird immer wieder durch Argumentationen unterbrochen. Dann versucht er sein damaliges Verhalten aus seiner damaligen Situation heraus zu erklären.
Er distanziert sich von einem Teil seines Verhaltens, bewertet die Zeit aber trotzdem positiv. Bezogen auf diese Zeit distanziert er sich von der rechten Ideologie, dem 'rumgrölen‘, 'rumlaufen‘, 'einfach sinnlos da, Leute vor den Kopf hauen‘, dem starken Alkoholkonsum und der Randale nach dem Fußballspiel. Er habe sich ein „bisschen rumgeprügelt, also auch Anzeige jekriegt wegen Körperverletzung, und so weiter und so fort“. Es ist nicht klar, welchen Stellenwert die einzelnen Delikte tatsächlich in seinem damaligen Leben hatten, aber weder die Gewalttaten, noch die Anzeige scheinen für ihn begründenswert. Es sind in dieser Szene normale Begebenheiten.

Außerhalb der Szene hat Harry noch zwei Personen, die ihm wichtig sind und die ihn wegen seines Lebensstiles kritisieren. Zum einen ist da ein langjähriger Freund, mit dem er schon zur Schulzeit befreundet war. „Mit dem war ich also besonders viel, bloß eben, er baut keene Scheiße, das is das Problem.“ Selbst wenn die Freundschaft auch in dieser Zeit besteht, so ist die Kritik des Freundes an Harrys 'Scheiße bauen‘ ein Distanz schaffender Faktor, der später zum Bruch führt.
Zum anderen hatte Harry zu dieser Zeit auch eine Freundin, mit der er vom 16. bis zum 19. Lebensjahr zusammen war. Die Beziehung verlief also ungefähr zeitgleich mit seiner Zugehörigkeit zur rechten Skinszene. Er betont aber ausdrücklich, dass diese Freundin aus einer 'ganz anderen Gruppe‘ kam, die 'gar nichts mit seiner Gruppe zu tun hatte‘. Diese Gruppe wird von ihm als „ganz normal“ gekennzeichnet. Trotzdem bringt er die Freundin in Zusammenhang mit seiner Integration in die rechte Skinszene: Er wollte damals nur einen Tag mit den Kumpels rumziehen und ein Jahr ist daraus geworden, „weil, ich hab damals och meine Freundin kennengelernt“.
Er verbringt die Zeit wahrscheinlich in der nahegelegenen Großstadt und kann sie am Anfang auch genießen. Seine Freundin ist ebenfalls von Zuhause weggegangen und hat eine Zeit lang im Orientierungshaus für obdachlose Kinder in der Großstadt L gewohnt. Da er schon zu alt ist, kann Harry selbst nicht lange im Orientierungshaus wohnen.
Nach einiger Zeit treten die Konflikte zwischen Harry und der Freundin bzw. zwischen den beiden Lebenswelten in den Vordergrund. Wenn er besoffen war und sie ihn besuchte, hätten sie sich nur noch gestritten. Sie lebte mittlerweile wieder bei ihren Eltern und scheint die Trennung mit ihm forciert zu haben, „was ich nachher och einjesehen habe, es jeht nicht mehr so!“.

Ausgrenzung in der Phase der Differenzierung und Distanzierung

Die Bedeutung der Ausgrenzung für Harry hat sich seit der Wende eklatant verändert. Damals gab es eine nicht unproblematische, aber selbstverständliche Struktur, in der Ausgrenzungsprozesse, mit den Ressourcen und Regeln der Struktur bearbeitet wurden. Mit der Wende muss er sich nicht nur durch Anpassung integrieren, sondern auch entscheiden, wo er sich verortet. Diese Entscheidung wird ihm aus seiner Sicht zu einem großen Teil durch die Ablehnung von der Bundeswehr abgenommen. Hier erfährt er eine ganz konkrete Ausgrenzung durch die neuen staatlichen Institutionen. Die Versuche des Vaters, ihn in eine berufliche Laufbahn zu integrieren, schlagen fehl. Die Lehre ist nicht in der Lage, seine Erwartungen und seine neuen Bedürfnisse zu befriedigen. Die Identifizierung der konturlosen Eltern mit dem neuen System führt zur Distanzierung und somit zu einem Ablösungsprozess von denselben. Er gehört demgegenüber mit den rechten Skins zu den Outsidern, den Verlierern des neuen Systems.
Die Wende hat so aus einem angepassten Jugendlichen mit einer konventionellen Lebensplanung eine vom System entwurzelte Person gemacht, die entsprechend ihrer neuen gesellschaftlichen Position nach den Regeln der Outsider lebt. Beim Erlernen dieser neuen Rolle ist ihm seine Anpassungsfähigkeit wieder sehr behilflich. Ohne die Inhalte zu hinterfragen, übernimmt er die Ideologie der älteren Autoritäten in der rechten Szene.

Ausgrenzung ist für ihn zu dieser Zeit eindeutig ein äußerer Konflikt: ein Konflikt zwischen den Protagonisten und Gewinnern im neuen System und den Verlierern. Wie es zu dieser Kluft kommen konnte und warum er auf der Seite der Verlierer steht, ist ihm nicht klar. Dass die Verlierer aber für ihr Verhalten sanktioniert werden, scheint nicht gesondert erklärt werden zu müssen. Wie das abweichende Verhalten selbst gehören die Sanktionen zu seiner Welt.
Aus diesem Schema fallen sowohl sein Freund als auch seine Freundin heraus. Wichtig ist dabei v.a. seine Freundin, die wie er auf der Seite der Verlierer steht, ihn aber durchaus wegen seiner Lebensweise kritisieren kann und sich von ihm distanziert. Das heißt, auch diese Welt verliert ihre Selbstverständlichkeit, ist hinterfragbar.

 
Entgrenzung
Die Jahre in der rechten Szene waren für Harry sehr wichtig. Hier hatte er eine Struktur vorgefunden, in die er sich aufgrund seiner Anpassungsfähigkeit schnell integrieren konnte und deren Ideologie eine Erklärung für die ihm ansonsten unverständliche Situation nach der Wende bot, „dass die Ausländer dran Schuld sind“. Nicht zuletzt durch die Distanzierung von den Eltern und den gesellschaftlichen Institutionen konnte er sich auch klarer in der Gesellschaft verorten. Im zweiten Abschnitt seiner Interimsphase löst sich Harry von der rechten Szene, fühlt sich aber weiterhin den Skinheads verbunden.

Harry der Skin

Um die beiden Szenen genauer charakterisieren zu können, fehlen vor allem in Bezug auf die alte Szene Informationen. Zur Szene dazuzugehören scheint für ihn vor allem die Bedeutung gehabt zu haben, sich an den Regeln bekannter und älterer Personen zu orientieren. Auch wenn er sich eindeutig hier verortet, so hatte er doch immer auch außerhalb der Szene Kontakte. Sein langjähriger Freund, der 'keine Scheiße baut‘ und seine Freundin, die aus einer 'ganz normalen Gruppe‘ kommt sind dafür Beispiele. Diese Kontakte ermöglichten ihm einen Blick auf die Welt jenseits der Szenegrenze, ohne sich gleich wieder in der abgelehnten Welt der Eltern zu befinden. Die 'In-group‘ Ausrichtung ist nicht ausschließlich.
Dies führt aber auch dazu, dass die Eingrenzung der rechten Szene selbst zur Disposition gestellt wird. Sie kann als etwas Trennendes empfunden werden und zwar zwischen Personen und Lebensweisen, die ihm wichtig sind.
Dieser Vorgang hängt für ihn mit dem 'älter werden‘ zusammen. Es ist ein Prozess von der Orientierung an anderen hin zu einer Orientierung an eigene Bedürfnisse. Eine daraus resultierende Wende in seiner Beziehung zur rechten Szene datiert er auf „18 oder so“. Damals war er auf einem Ska Konzert in Brüssel und „da fiel mir das erst mal so auf, dass da ebend, dass es och andere Skins gab, nich nur rechte.“ Er lernte linke Skins kennen, Skins, die gegen Rassismus waren und „ebend normale Menschen“, die „Hauptsache Party“ haben wollten und denen ansonsten egal war, was die anderen so machten.

Für Harry tat sich eine neue Welt auf, eine Welt, in der es vor allem um das gemeinsame Musikerlebnis geht, um Spaß haben und Partys feiern. Die politische Ausrichtung ist in dieser Welt nur eine störende Trennlinie zwischen Leuten, die ein gemeinsames Interesse haben. Die bei den rechten Skins angestrebte und erlebte Gemeinschaft kann so weiter ausgedehnt werden. Bei dieser Gemeinschaft steht aber nicht mehr die Distanzierung von anderen Welten als konstituierendes Merkmal im Vordergrund, sondern die möglichst breite Einschlussfähigkeit der Musik und des Bedürfnisses nach Gemeinschaft und Spaß.
Klare Grenzen scheinen diesem Bild von Gemeinschaft prinzipiell entgegenzustehen. Nach einer Phase der Distanzierung versucht er nun Grenzen, die seinen Bedürfnissen entgegenstehen zu relativieren und getrennte Welten zusammenzuführen. Ihm kommt dabei seine Kontaktfreudigkeit zu Gute. Er kennt nicht nur rechte, linke und unpolitische Skins, sondern auch viele Punks. So spricht er auch von der „Punk- und Skinszene“, in der er sich bewegt. Er unterhält sich aber auch mit „irgendwelche Autonome“ bei einem Bier und er hat „viele Freunde“ aus Mozambique.
Auch die äußeren Merkmale der verschiedenen Jugendkulturen verlieren für ihn ihre trennende Bedeutung, so kann er durchaus bei einem Irokesenschnitt zugestehen, dass das bei 'manchen echt gut aussieht‘. Punks „sind och keene politischen Leute die die gleiche Musik hören wie ich hören, Party machen ist och alles [...]“.

Sein Traum ist es, dass die verschiedenen Szenen mehr zusammengehen. Um dies zu verdeutlichen verweist er auf das Lied von Jimmy Pursey: 'If the kids are united‘ und fasst es so zusammen: „Wenn alle zusammenhalten wird’s allen gutgehen, alles wird gut.“
Zeitweise wird diese Gemeinschaft auf Partys und Konzerten erreicht. Er spricht sich selber Mut zu wenn er sagt: „Zwischen linken und rechten Skinheads nich unbedingt aber ne kleene Verbindung gibt es da auch, hundert Prozent. Spätestens beim Ska - Konzert kommen die alle mal irgendwann zusammen.“ Fast resigniert fügt er allerdings hinzu: „Da gibt es keene Randale, und wenn ich draußen auf der Straße sitze da sieht’s schon wieder ganz anders aus. [...] Das kotzt mich dann eigentlich schon an.“

Wahres Skinsein und das falsche Bild

Dieser Prozess des 'älter werdens‘ hat für ihn weitreichende Konsequenzen. Es ist nicht mehr möglich, sich einfach vorgegebenen Strukturen anzupassen und sich abhängig von dem zu machen, was ihm die Älteren sagen. Entsprechend seiner eigenen Struktur verändert sich auch die Struktur der Szene. Sie besteht für ihn jetzt aus einen lockeren Zusammenhang vieler Freunde. Er nennt dabei bis zu 300 Personen zu denen er Skins und Punks zählt. Seiner Schilderung zur Folge treffen sich täglich ca. 20 – 30 dieser Leute an verschiedenen Orten der Stadt, so z.B. im Park oder auf dem Marktplatz, trinken Bier, hören Musik und haben „schön viel Spaß“ und ab und zu gehen sie auf Konzerte von Skin- oder Punkbands. Es scheint eine harmonische Szene zu sein und es wundert ihn selbst, dass, obwohl sich nun täglich so viele treffen, sie „keine Scheiße jebaut“ hätten, abgesehen von der lauten Musik.
Im Gegensatz zur rechten Szene würden auch die Mädchen voll akzeptiert. Neben diesen sehr weiten Freundeskreis gibt es aber auch noch den engen Freundeskreis, „een ganz kleenen, einen Kern“ von fünf bis sechs Personen. Dieser Kreis trifft sich ohne die Anderen, trinkt Bier, unterhält sich und sieht Musikvideos. Dies sind die Personen, die „genauso denken wie ich“ und dementsprechend keine Randale im Fußballstadion oder auf der Straße machen.
Er versteht sich weiterhin als Skin, steht auch noch zu den alten Freunden, distanziert sich aber vehement von dem Identitätsmerkmal vergangener Jahre, der Politik. Entsprechend verändert sich auch seine Definition vom Skinsein.

Für ihn ist das eigentliche Skinsein so etwas wie eine multikulturelle Musikszene, in der die gemeinsame Party im Zentrum steht. Dies leitet er historisch ab, indem er auf die Wurzeln in Südengland verweist, wo Schwarze die Skinheadmusik, den Ska erstmal populär gemacht hätten. „Das versteh ich nicht, wenn sich einer die Haare abrasiert und ein T-Shirt anzieht, 'ich bin stolz Deutscher zu sein‘, und sich dann als Skinhead ausgibt.“ Damit lehnt er aber nicht den rechten Skin als Person ab, sondern nur dessen Art zu denken. „Eigentlich [seien sie] ganz cool drauf“, würden aber „total falsch denken“. Wie bei seinem eigenen Rechtssein erklärt er sich diesen Widerspruch mit deren persönlicher Unreife, die würden halt kurze Haare haben und „Sieg Heil“ schreien, weil „der große Bruder“ dies so vorgeben würde.
Politik muss allerdings von 'Gedankengut‘ unterschieden werden, das er durchaus weiter behalten will. So habe er eine „Vorliebe für den zweiten Weltkrieg“. Politisch sein ist für ihn immer mit konkreter Auseinandersetzung verbunden und damit geht es mit der Suche nach Randale und dem Stress machen zusammen.
Die Welt der Skins, in der sich Harry bewegt, sieht also grob wie folgt aus. Um den „Zusammenhalt und die Musik“ gruppieren sich unterschiedliche Jugendliche mit ähnlichen äußeren Merkmalen, die ihren Spaß haben wollen.Da Punks eine ähnliche Art zu Leben haben gibt es keine prinzipielle Trennung zwischen den verschiedenen Gruppen. Diese Jugendlichen treffen sich täglich, trinken Alkohol, nehmen teilweise Drogen, hören ihre Musik und wollen in Ruhe ihre Gemeinschaft genießen. Interne Spannung gibt es dann, wenn Politik mit ins Spiel kommt. Dann steht nicht mehr die „Ruhe“, sondern der „Stress“ im Vordergrund, dann wird die von ihm angestrebte Gemeinschaft von Auseinandersetzungen und „Randale“ verdrängt.

Seine veränderte Identität hat aber nicht nur Auswirkungen auf sein Leben in der Szene, sondern auch Konsequenzen in Bezug auf die Welt der Eltern bzw. der Gesellschaft. Als er noch in der rechten Szene war, standen sich zwei sich gegenseitig ausschließende Welten gegenüber. Der Konflikt drückte sich auf der einen Seite durch das Randalieren und auf der anderen Seite durch entsprechende Sanktionen aus. Es war die Zeit des 'Stresses‘, für Ruhe war nur wenig Raum. Das Politische steht somit nicht nur für das Trennende innerhalb der Szene, sondern auch für den Konflikt mit der Öffentlichkeit. Um sein erklärtes Ziel, nämlich „in Ruhe“ als Skin zu leben, zu erreichen, benötigt Harry aber so etwas wie eine friedliche Koexistenz. Dies ist ein weiterer Grund, sich nicht politisch zu betätigen, das heißt, nicht zu randalieren. Trotz seiner Bemühungen in dieser Richtung ist es ihm nicht möglich, den Konflikt zwischen den beiden Parteien zu nivellieren.
Der Grund liegt darin, dass Teile der Szene und die Öffentlichkeit auf der Basis 'falscher Bilder‘ vom Skinsein, diese Auseinandersetzung fortführen. Beide Seiten halten an dem Bild des rechten, randalierenden Skins fest und lassen somit die Beziehung nicht zu Ruhe kommen. Trotz seiner veränderten Verhaltensweise sieht er sich so weiterhin als Skin sanktioniert. Diese Ausgrenzungserfahrungen korrespondieren jetzt nicht mehr mit einem tatsächlichen Verhalten, sondern mit einem Stigma, das ihn auf den 'bösen bösen Faschisten‘ und den Randalierer festschreibt.
Für diesen Zusammenhang finden sich zwei Beispiele. Er habe auch viele Freunde aus Mozambique, und als er sich mit einem von ihnen unterhalten habe, sei „so’hn alter Opa angesprungen und hat mich da angeschrien ich solle den in Ruhe lassen.“ „Die sehn doch bloß, das is ein Skinhead, das ist ein Neonazi.“ Er habe den Mann nur angegrinst und nicht gewusst, was er sagen sollte. Das sei eben das von den Medien verbreitete „falsche Bild“.
Ein anderes Beispiel bezieht sich auf die Sicherheitsmaßnahmen beim Fußballspiel. Aufgrund seines Aussehens würde er zum Sondereingang geschickt und dort von oben bis unten abgetastet. Außerdem müsse er vorm Spiel seine Stiefel in einen Schrank einschließen und barfuss ins Stadion gehen, „bloß weil du kurze Haare hast, ist doch Scheiße.“ Auch wenn er sich ärgert, so versucht er doch diesen Problemen aus den Weg zu gehen, indem er sich z.B. von den Hools distanziert und in „ganz normalen Klamotten“ zum Spiel kommt.

Harry möchte also voll in die Szene integriert sein, aber gleichzeitig auch ein harmonisches Verhältnis zur Umgebung haben. Er kommt aus einer rechten Gruppierung, will diese Freunde behalten, lehnt aber gleichzeitig deren Politik ab. Als Mitglied einer stark von Ausgrenzungsprozessen bestimmten Szene will er gleichzeitig die Konflikte nach Außen nivellieren. Dies ist ein Spannungsfeld, das viel mehr von seiner Person verlangt als noch die eindeutige Zuordnung zur rechten Szene und die Abgrenzung zu den Eltern.

Annäherung an die Eltern

Als sich im Alter von 19 Jahren seine Freundin von ihm trennt, ist Harry klar, dass er Konsequenzen ziehen muss. Er zieht zu einem engen Freund in dessen Wohnung. Indem er weniger trinkt und fast keine Drogen mehr nimmt, distanziert er sich nicht nur räumlich von der Szene, sondern auch in seiner Lebensweise.
Er nähert sich in dieser Zeit der Welt der Eltern wieder an. So habe er sich „sogar um Arbeit bemüht“, sei auf dem Arbeitsamt gewesen und habe in einer 'Transportfirma‘ gearbeitet. Er habe 'sein Geld‘ verdient und das sei eine „eigentlich janz jute Zeit“ gewesen. Die Annäherung ging sogar so weit, dass er sich sein Bedürfnis nach Nähe zu den Eltern eingestehen kann. Weihnachten hatte er schon in Bezug auf die Vorwendezeit als Fest geschildert, an dem er alles bekommen habe, was er wollte. Seitdem er in der Szene war, verbrachte er Weihnachten nicht mehr zuhause. In diesem Jahr aber habe er Heiligabend „echt vermisst“. Harry ist aber noch nicht so weit, seinen Eltern diesen Wunsch nach Nähe einzugestehen. Er hat „och keen Mut“ gehabt, bei seinen Eltern anzurufen, obwohl er nur 10 Kilometer von ihnen entfernt war. Gleichzeitig wird die Annäherung noch durch die bestehende Beziehung zu den Kumpeln erschwert. Ihnen fühlt er sich immer noch so weit verpflichtet, dass er nicht nach Hause gegangen ist, obwohl seine Eltern anscheinend nichts dagegen gehabt hätten.
So feiert er in einer Anlaufstelle mit anderen Straßenkindern „ne kleene Weihnachtsfeier“, „war eigentlich och relativ jut.“ Er steht zu diesem Zeitpunkt zwischen beiden Welten, noch ist er in der Szene verwurzelt, gleichzeitig versucht er sich der Welt der Eltern anzunähern. Beide Welten behalten aber ihren sich gegenseitig ausschließenden Charakter.
Kurz nach Weihnachten kommt er aufgrund der Anzeige wegen der Körperverletzung in U-Haft. Wie schon die Tat selbst, scheinen die Inhaftierung und die Anzeige kaum erwähnenswert, die Gerichtsverhandlung kommt in der Erzählung gar nicht vor.

Trotzdem markiert diese Haft einen weiteren Wendepunkt in seiner Biographie. Er ist inzwischen 20 Jahre alt und als er im Februar aus der Haft entlassen wird, geht er nach Hause zu seinen Eltern, sagt ihnen, dass er im Knast war und 'was so anliegt‘. Nach einer langen Zeit der Distanz hat er seinen Eltern gegenüber nun eine Position gewonnen, die es ihm ermöglicht, sich auch wieder offen anzunähern.
Im Gegensatz zum bisherigen Bild der Eltern, wird deren Reaktion als sehr eindeutig dargestellt: „Die haben sich mächtig gefreut“. Sie erscheinen als konkrete Personen mit eindeutigem Interesse an der Beziehung zu Harry. Seine ambivalente Beschreibung und das konturlose Bild der Eltern haben hier keine Bedeutung mehr. Während sich sein Verhältnis zur Szene ausdifferenziert und von Widersprüchen geprägt ist, gewinnt seine Beziehung zu den Eltern an Eindeutigkeit. Diese signalisieren jetzt auch im Gegensatz zum früheren Desinteresse ein klares Nähebedürfnis seiner Person gegenüber.
Er befindet sich jetzt in einer Position, die ihm erlaubt, mit seinen Eltern über die Beziehung zwischen sich und ihnen zu verhandeln. Als Verhandlungspartnerin wird zum erstenmal die Mutter als Einzelperson genannt. Er kann zuhause wohnen, macht aber gleich seine Grenze ihrer Person gegenüber deutlich: „also mit ihr möchte ich nich, um Gottes Willen, nicht mehr rumrennen.“ Er stellt Bedingungen, unter denen er bereit ist, sich verstärkt an der Welt der Eltern zu orientieren.
Diese Übereinkunft scheint für ihn auch „ne Zeitlang“ gut gewesen zu sein, bis er sich wieder stärker in die konkurrierende Welt der Kumpels integriert. Diese neue Zuwendung geht diesmal allerdings nicht mit einer bewussten Distanzierung zu den Eltern einher. Ganz im Gegenteil, auch in der Erzählung der letzten Monate bis zur zweiten Inhaftierung im Spätsommer orientiert er sich meist an der Welt der Eltern.

So erscheint die erneute Eingliederung in die Szene als eine Art Rückfall. Während er noch in der vorherigen Phase seine Kontaktfreudigkeit und Anpassungsfähigkeit als positive Merkmale der Integration hervorhebt, spricht er jetzt von der Kehrseite dieser Eigenschaften: „also, ich bin leicht zu verleiten, würd ich mich mal so einschätzen.“ Es ist eine Schwäche seiner Persönlichkeit, dass er wieder dabei ist, dass „der ganze Zirkus wieder los“ ging. Er wurde wieder „janz runter“ gebracht, was letztlich zur zweiten Inhaftierung führte. Er spricht hier wieder aus der Perspektive des Harry, der vernünftig von außen analysierend entscheidet, was für ihn gut ist und was nicht.
In diesem Zusammenhang berichtet er auch von der Straftat, die er nach der erneuten Integration in die Skinszene begangen hat. Diese Erzählung unterscheidet sich wesentlich von der Erwähnung der ersten Gewaltstraftat. Die damalige Körperverletzung führt er nur ganz kurz als Beleg seiner Zugehörigkeit zur rechten Szene an. Gleichzeitig genügt ihm diese Zugehörigkeit als Erklärung der Gewalttat. Gewaltstraftaten und die Zugehörigkeit in der rechten Skinheadszene sind für ihn ein selbstverständliches Paar.
Aber gerade auf diese Konstellation kann er sich jetzt nicht mehr berufen. Er hat inzwischen eine Ich-Identität entwickelt und seine Einstellung zur rechten Szene und zur Gewalt grundsätzlich geändert. Er kann nicht mehr einfach auf die Gruppe verweisen, sondern muss auch seine eigene Person und Verantwortung thematisieren.
Einerseits nimmt er für sich in Anspruch, sich auch gegen die Mehrheit der Kumpels gegen Randale auszusprechen und gleichzeitig gesteht er zu, gemeinsam mit anderen eine räuberische Erpressung begangen zu haben. Dieser Widerspruch ist ihm durchaus bewusst und er entwickelt mehrere Theorien, die seine Verantwortlichkeit relativieren.
So führt er in einer triebtheoretischen Erklärung gerade seine lange Gewaltabstinenz als Begründung an. Er habe fast zweieinhalb Jahre keine Straftat begangen und in dieser Zeit 'staue‘ sich einiges im „Unterbewusstsein“ auf. Wenn er dann einen Blackout habe, würde sich „da die ganze Energie und der ganze Frust“ 'entladen‘ und er würde 'voll ausflippen‘. Seine Gewalttat ist so Ausdruck einer Gesetzmäßigkeit, die er unter bestimmten Bedingungen nicht beeinflussen oder gar verhindern kann. Er kann nur durch Alkohol- und Drogenabstinenz verhindern, dass er einen Blackout hat, aber das würde auch nur den inneren Druck erhöhen.
Die Verbindung zum Unbewussten wird noch dadurch verstärkt, dass er vorgibt, sich an die Tat nicht erinnern zu können. In dieser Argumentation stellt sich die Tat als Ausdruck des Konfliktes zwischen dem Ich und dem Unbewussten dar. Er wird für etwas verantwortlich gemacht, das er zwar getan hat, wobei er letztlich aber nur passiv war. Entsprechend beginnt er diese Passage folgendermaßen: „Mir passiert eben sowas wie ebend jetzt was ich gemacht habe nur [...]“.

Die andere Argumentation entlastet die eigene Verantwortung nicht durch eine unkontrollierbare innere Instanz, sondern durch äußere Einflüsse. Neben der Kontaktfreudigkeit und der Anpassungsfähigkeit erwähnt er die leichte Verleitbarkeit als dritte Konstante seiner Persönlichkeit. Wenn ihm jemand sagt, er könne jemanden nicht leiden, den müssten sie jetzt umhauen, dann „denk ich nich lange groß drüber nach“. Dies gilt wiederum im verstärkten Maße, wenn er unter Alkohol steht. So reduziert sich letztlich wieder seine Verantwortung auf den Konsum von Alkohol und Drogen.
Hier will er in Zukunft besser aufpassen, weil „das nächste Mal wie gesagt schlag ich eenen tot und kriege 25 Jahre Knast und weeß nich warum oder so“. Er möchte nicht für etwas zur Verantwortung gezogen werden, was er nicht unter Kontrolle hat. Ihn beängstigt, dass er sich an die Tat nicht erinnern kann und so auf das angewiesen ist, was ihm in der Anklage gesagt wird. Er bereut die Tat nicht aus evtl. Schuldgefühlen dem Opfer gegenüber, sondern weil sie für ihn keine „Punkte“ bringt und sich aufgrund der Sanktion negativ auf sein Leben auswirkt.
Persönliche Unreife, wie zur Zeit in der rechten Szene, führt er jetzt nicht an. Grundsätzlich sieht er sich als verantwortlich handelnde Person, aber aufgrund des Blackouts durch Alkohol und LSD sieht er gute Chancen für eine „Tatverminderung“.
Neben dieser Straftat, die sich schädigend auf sein Leben auswirkt, spricht er in Bezug auf die Zeit vor der zweiten Inhaftierung zum ersten Mal von grundsätzlichen Nachteilen seines Lebens in der Szene. Am Anfang sei dies Leben mit Drogen, Saufen, Partys und Konzerten seine „volle Erfüllung“ gewesen. Über die lange Zeit habe er aber „7 oder 8 Kilo abjenommen“ und es habe ihn „gesundheitlich total fertig gemacht“.
Positiv hebt er an dieser Zeit und dem Leben in der Szene nur seine Beziehung zur neuen Freundin hervor. Im Gegensatz zur alten Freundin identifiziert sie sich wie er voll mit dem Skinsein. Sie ist ein „Skinheadgirl“, „hat och kurze Haare und trägt Stiefel alles so, genau wie ich.“ Sie trinkt und raucht zwar nicht, geht aber wie er gern auf Konzerte und ist auch für Spaß zu haben.

Ausgrenzung in der Phase der Entgrenzung

Nach der Phase der Distanzierung und klaren Grenzziehung stehen in dieser Phase die Harmonisierungstendenzen im Vordergrund. Harry entwickelt eine Ich-Identität und kann klar ausdrücken, welche seine Bedürfnisse sind. Nicht mehr die vorgegebene Struktur der rechten Szene steht im Vordergrund, sondern die seiner eigenen Person. Er möchte mit anderen Jugendlichen in Ruhe die Gemeinschaft genießen können. Durch diese individuelle Abgrenzung seiner Person von der Struktur der Szene gewinnt er eine Perspektive, aus der die gegebenen Grenzen eher störend wirken.
Harrys primäre Grenzerfahrung in dieser Zeit ist nicht die Ausgrenzung. Vielmehr bekommt er deutlich den trennenden Charakter einer jeden Grenze zu spüren. Die Grenzen stehen somit als solche seinem Konzept von Gemeinschaft und Harmonie entgegen. Sein Ziel ist nicht die Differenzierung der verschiedenen Jugendszenen, sondern die Vereinigung aller Jugendlichen. Wenn alle Grenzen und Konflikte in der Szene abgeschafft sind 'wird alles gut‘. Aber auch die eindeutige Abgrenzung zur Welt der Eltern und der Gesellschaft wird unter der neuen Perspektive relativiert. Dieser Konflikt besteht letztlich nur aufgrund der 'falschen Bilder‘ vom Skinsein auf beiden Seiten. Aus seiner Perspektive spricht viel für eine Annäherung an diese Welt. So möchte er auch eine harmonische Beziehung zu seinen Eltern.
Wo er konkrete Ausgrenzung erfährt, so z.B. vor dem Fußballstadion, reagiert er mit Anpassung. Sie ärgert ihn zwar, aber er hat auch Verständnis. Harry will keinen Stress, und so kommt er nicht wie früher mit den Hools in einem Bus, sondern im Privatwagen in unauffälliger Kleidung.
 
   
Die zu nutzenden Startzeichen
Dieser Abschnitt ist im besonderen Maße von der aktuellen Situation von Harry geprägt. Das Interview fand drei Wochen nach seiner Inhaftierung in der U-Haft statt und eine halbe Stunde nach dem Besuch von seiner Freundin. Diese hatte ihm bestätigt, dass sie im fünften Monat von ihm schwanger sei.
Außerdem war einige Tage später sein Haftprüfungstermin und er hatte sich ja auch noch zu dem Interview bereit erklärt. Harry war also in einer außergewöhnlichen Situation, was sich vor allem am Anfang in seiner Nervosität zeigte. Schon die Inhaftierung ist ein Einschnitt in sein Leben. Die Information, Vater zu werden, verstärkt diesen Eindruck noch. Beide Brüche sind für ihn Möglichkeiten, sich tatsächlich neu zu orientieren.
 
Distanz zur Szene

Die aktuelle Inhaftierung ist sein zweiter Aufenthalt in der U-Haft. Der erste liegt nur ungefähr ein halbes Jahr zurück und bezog sich auf ein Gewaltdelikt, das wiederum mehrere Jahre zurücklag. Die zweite Reaktion des Staates war also wesentlich schneller und er bezieht sie entsprechend auf die konkrete Tat. Dieser konkrete Zusammenhang zwischen Tat und Sanktion ist für ihn vor allem in Hinblick auf den folgenden Haftprüfungstermin wichtig. Er versucht innerhalb der ihm bekannten juristischen Regeln, seine Situation zu analysieren, und möglichst günstig auszulegen. Der Aufforderungscharakter der Sanktion, die Tat nicht zu wiederholen, hat er durchaus verstanden und akzeptiert. Ihm ist klar, dass er in Zukunft weniger Alkohol und Drogen nehmen muss, damit sich diese oder schlimmere Taten nicht wiederholen.

Neben diesem Zusammenhang zwischen Tat, Sanktion und geplanter Reaktion hat der Aufenthalt in der Vollzugsanstalt aber noch eine weitergehende Bedeutung: die faktische Trennung von der Szene, in der er sich zur Tatzeit bewegte. Es ist aus dieser Perspektive nicht mehr die Szene, in der er viel Spaß hatte, sondern die, die ihn 'runter brachte‘, in der er 'verleitet‘ wurde und die ihn „total fertig“ gemacht hat. Dem gegenüber bekommt der Vollzug fast den Charakter eines Sanatoriums. Als Beleg dafür, wie schlecht es ihm ging, berichtet er, dass er „voll jezittert“ habe, als „die mich einjeliefert haben.“
Sein Zustand kann sich aber durch die Zwangstrennung von der Szene schnell stabilisieren: „mir jehts jetzt deutlich wieder besser, würd ich sagen, och jetzt seelisch eigentlich.“ Was er nach der letzten Inhaftierung aus eigener Kraft nicht geschafft hat, wird so von außen wieder herbeigeführt. Er hat sich entsprechend der neuen Situation eingerichtet, er hat alles was er so braucht: einen Fernseher, „ne Kaffeemaschine, Kassettenrecorder, alles. Ich ha hier keene Probleme“.

 
Gesellschafts- und Selbstreflexion

Die klare Struktur des Vollzugs ist für ihn so auch ein Freiraum, sich unabhängig von der Szene zu sehen, und die eigene Situation zu reflektieren. Auch die Interviewsituation ist hierfür eine gute Gelegenheit. „Man hat hier so viel Zeit hier um nachzudenken.“ Diese Zeit nutzt er und dementsprechend sind seine Bilanzierungen und Zukunftspläne von Argumentationspassagen und Eigentheorien durchsetzt.
Die politische Wende ist ein wichtiger Bezugspunkt in seiner Reflexion. Entsprechend geht Harry auch auf den Vergleich der Zeit vor und nach der Wende bzw. der beiden politischen Systeme ein. Er ist zum Zeitpunkt des Interviews nicht mehr überrumpelt von den neuen Verhältnissen, sondern hat über mehrere Jahre Kontakt mit dem neuen System.

Distanzierter als zur Zeit kurz nach der Wende diskutiert er jetzt die Unterschiede eher als abstrakte Rahmenbedingungen, mit denen er sich auseinandersetzen muss. Ausgangspunkt ist für ihn die immens gestiegene Kriminalität, die sich in der Anzahl der Jugendlichen im Gefängnis niederschlägt. Diese Jugendlichen seien „früher alles brave Pioniere“ gewesen und er bezweifelt, dass die in der DDR straffällig geworden wären. Kern seiner Kriminalitätstheorie ist der sinkende Respekt, den der Staat und dessen Exekutive, die Polizei, genießt. Zu DDR-Zeiten habe man noch „richtig Respekt“ vor der Polizei gehabt, heutzutage „lache ich manchmal kaputt, was da für Idioten ankommen.“ Bei einer Ausweiskontrolle habe er gesagt: „komm schieb ab“ und dann seien die Polizisten auch noch gegangen. Ähnlich wie die Eltern nach der Wende erscheinen die Polizisten konturlos und weich, nicht respektabel. „Zu DDR-Zeiten, die hätten mir die Fresse eingehauen, hätten mich mitgenommen wenn ich sowas gesagt hätte.“
Als Konsequenz dieser Situation sieht er die Gefahr der 'amerikanischen Verhältnisse‘. Da herrschen in 'Bandenkriegen‘ Jugendliche mit 'richtigen Knarren‘ über die Straße und die Polizei muss ohnmächtig zusehen. Er fordert so indirekt ein härteres Vorgehen auch gegen die Szene, die ihm selbst nahe gestanden hatte. Wie seine nachgiebigen Eltern seine kriminelle Karriere ermöglichten, so ermöglicht die weiche Polizei auch die gewalttätigen Jugendbanden. Von der Gegenüberstellung der harten DDR-Polizei und der weichen BRD-Polizei kommt er zur grundsätzlichen Gegenüberstellung der politischen Systeme.
Das DDR-System zeichnete sich durch Eindeutigkeit aus. Was Honecker sagte war okay. Dies begründet er nicht mit Inhalten, die er akzeptieren konnte, sondern allein damit, „weil es nischt anderes gab.“ Dementsprechend bemängelt er im aktuellen System nicht eine falsche Politik, sondern die fehlende Konstanz in der Politik. So gäbe es die Möglichkeit, dass die eine Regierung von einer anderen abgelöst werde und Entwicklungen zurückgedreht würden, „das ist doch alles Quatsch, das geht nicht.“
Ihn stört nicht eine bestimmte politische Ausrichtung, sondern die politische Auseinandersetzung als solche. Er beurteilt die Systeme nach deren Einschlussfähigkeit. Dieses Kriterium durchzieht das ganze Interview. Inwieweit sind sie in der Lage, eine Gemeinschaft zu bilden bzw. ihn zu integrieren. Ein Staat mit einer eindeutigen Autorität und entsprechend harten Grenzen kann dies besser leisten als das System, mit dem er konfrontiert ist.

Wie schon in der Skinszene wird die politische Auseinandersetzung zum Kennzeichen der Trennung der Gemeinschaft. Von einer Gesellschaft, die sich selbst nicht einig ist, kann er auch nicht „100% überzeugt“ sein. So macht er keinen Hehl aus seiner Ablehnung des jetzigen Systems und seiner Sympathie für das DDR-System.
Ihm ist dabei durchaus bewusst, dass auch das DDR-System nicht in der Lage war, alle Personen einzuschließen, dass es damals Menschen gab, die gegen den Staat „aufgeputscht“ haben. Er glaubt aber nicht, dass sie das aktuelle System gewollt hätten, da sie doch „heute noch tiefer in der Scheiße stecken“. Primär geht es ihm aber um die Einschlussfähigkeit des Systems bezogen auf seine Person. Ihm sei in der damaligen Zeit nichts passiert, er habe „immer zu fressen gehabt“ und man habe ihn nicht bespitzelt. Entsprechend ist ihm auch klar, dass es im neuen System Menschen gibt, die integriert sind, denen es gut geht, wie z.B sein Vater. Der hat sich über die Wende gefreut, hat seine Arbeit behalten und engagiert sich politisch in der SPD.
Gerade vor diesen 'normalen‘, integrierten Personen muss er sich mehrmals bezüglich seiner Position außerhalb der gesellschaftlichen Normalität rechtfertigen. So forderte ihn die alte Freundin häufig auf, seinen Lebensstil zu ändern. Als er das nicht tat, trennte sie sich von ihm.
Ähnliches erzählt er auch von seinem alten Freund, den er schon seit ca. zehn Jahren kennt. Dieser Freund „baut keene Scheiße“ und redet seit einiger Zeit schlecht über Harry. Seit er im Knast sei, halte der Freund nicht mehr zu ihm.

Neben diesen Auseinandersetzungen wird aber vor allem durch den Vater Harrys Berufslosigkeit problematisiert. Auch nach seiner eigenen Lebensplanung wäre er schon längst im Berufsleben integriert und so ist neben seiner Inhaftierung vor allem seine Berufslosigkeit ein Kennzeichen für seine Position außerhalb der Normalität. „Na ja, aber wie gesagt beruflich bin ich eben überhaupt nich weit jekommen, also, voll auf der Strecke jeblieben, würd ich sagen.“ Die Bedeutung seiner Person in diesem Prozeß wird von ihm aber gleich wieder relativiert: „aber dazu sagen, es jeht vielen so.“ Als Beleg führt er die Schulkameraden an, die nach der Wende in die alten Bundesländer gegangen sind. Die „sind da jämmerlichst uf die Schnauze jeflogen.“ In der darauffolgenden Differenzierung muss er allerdings eingestehen, dass die Hälfte der Personen im Lehrverhältnis steht und der Rest einen Job hat oder studiert. Er interpretiert diese beruflichen Wege als „Abwendung [...] weil sie keen Plan mehr hatten, was se machen sollten.“
Im Vergleich zu seinen Brüdern relativiert er die Bedeutung seiner Person nicht mehr. Es gibt einen älteren Bruder, der eine Familie mit vier Kindern hat und einen jüngeren Bruder. Selbst dieser Bruder macht jetzt eine Lehre. Im Vergleich zu seinen Geschwistern, die ansonsten im Interview kaum eine Bedeutung haben, „bin ich der Einzigste, der noch relativ in der Luft hängt.“ Er kann sich somit auch nicht auf ein Familienschicksal berufen.

Harry möchte Teil der gesellschaftlichen Normalität sein, sieht sich aber selber außerhalb. Einen Teil dieser misslichen Lage erklärt er anhand des Begriffs der „Gemeinschaft“. Hier entwickelt er eine Theorie zu seiner Person, wenn nicht sogar zu einer ganzen Generation. Sie betrifft die Personen, die die Wende und somit auch die Zeit vor der Wende mitbekommen haben. Sie konnten damals noch die Gemeinschaft und den Wegfall derselben „jenau am eigenen Leib“ erfahren. Weil viele Jugendliche die „Gemeinschaft irgendwo doch schon vermissen“ ziehen sie sich zu „irgendwelchen Cliquen“ zusammen. Soweit seine Theorie.
Er bewahrte die Konstanz und integrierte sich in eine Gemeinschaft mit den DDR-Institutionen ähnlichen Strukturen. Später musste er allerdings feststellen, dass gerade dieser Schritt ihn paradoxerweise immer weiter von der eigentlichen Gemeinschaft, der ganzen Gesellschaft, trennte. Er hat sich zwar in eine Gemeinschaft integriert und diese immer weiter ausgeweitet, dabei allerdings den Anschluss an die Gemeinschaft der BRD nicht geschafft. Entsprechend wirkt jetzt die Skinszene wie eine konkurrierende Ersatzgemeinschaft.
Diese Ersatzgemeinschaft hat den Vorteil, dass er sie zeitweise tatsächlich als Gemeinschaft erleben kann. Dies gilt vor allem auf Partys und Konzertbesuchen. Die Gesellschaft erscheint demgegenüber als uneinheitliches Gebilde. Trotzdem sieht er sich jetzt mit ihr konfrontiert. Er muss ihr gegenüber Position beziehen. Dies gilt insbesondere in der aktuellen Situation der Inhaftierung. Die Gesellschaft hat ihn eindeutig sanktioniert und zur Integration aufgefordert. Position beziehen heißt vor allem zu klären: wieso ist er nicht integriert und was hat er in der Zukunft vor?
Er steht in dieser Situation als Einzelperson den gesellschaftlichen Institutionen gegenüber. Entsprechend versucht er seine Lage aus seiner Person heraus zu klären: „Über sowas hab ich eben nachjedacht, ich hab immer versucht eben, och zu überlegen woran es liegen kann, warum das so ist warum ich so bin wie ich bin.“
Diese ausdrückliche Problematisierung der eigenen Person führt ihn zu seiner Kindheit im familiären Bereich zurück. Gemessen an dem ihm bekannten Maßstab kann er hierzu nur sagen, dass seine Kindheit „in Ordnung“ war, „das is jetzt alles ordentlich verlaufen bei mir.“ Er kann den Eltern deren Erziehung nicht eindeutig vorwerfen. Trotzdem ist ihm klar, dass die Erziehung etwas mit seiner jetzigen Situation zu tun hat. Paradoxerweise scheinen es gerade die Aspekte zu sein, die seine Erziehung positiv von der der Kumpels abheben, die eine ähnliche Entwicklung wie er durchlaufen haben. Er ist materiell immer sehr gut versorgt und nie durch harte Sanktionen eingeschränkt worden. Er hält es zumindest für möglich, dass dies nicht nur positiv war.

Die Eltern sind für ihn aber kaum greifbar, er kann sie nicht zur Verantwortung ziehen. Dies scheint schon deshalb zu gelten, weil er im Moment auf ihre Unterstützung angewiesen ist. Sie halten im Gefängnis zu ihm und versuchen sich auch konstruktiv mit ihm auseinanderzusetzen. So hören sie ihm zu und geben ihm nicht gleich die „Schuld“. Sie „suchen jetzt och die Fehler bei sich.“
Dieses Eingeständnis wird von ihm aber gleich wieder mit den Worten „bloß, im Prinzip liegts daran nich“ relativiert. Dies scheint auch der Kompromiss zu sein, mit dem er die Verantwortung der Eltern benennen kann: Sie haben Fehler gemacht („vielleicht ein bisschen lasch gewesen“), aber „im Prinzip“ hat es daran nicht gelegen. Diese Regelung hat allerdings den Nachteil, dass er so seine eigene Person nicht erklären kann. Sein ambivalentes Bild von den Eltern hängt somit eng mit dem Unverständnis seiner eigenen Person zusammen. Er muss eingestehen, dass er auf seine Frage, warum er so ist wie er ist, „keen richtigen Entschluss gefunden“ habe. Die Beantwortung der Frage nach dem 'Warum‘ bleibt offen.

 
Neue und alte Bedingungen

Kurz vor dem Interview hatte Harry nach einigen Wochen seine Freundin im Besucherzimmer wieder gesehen und erfahren, dass sie im fünften Monat von ihm schwanger ist. Diese Information machte auf ihn einen tiefen Eindruck und er wirkte vor allem zu Beginn des Interviews sehr aufgeregt und glücklich. Da er sich aber schon über Namensgebung und Erziehungsstile Gedanken gemacht hatte, kann unterstellt werden, dass er schon vorher zumindest Vermutungen bezüglich seiner Vaterschaft hatte. Die zukünftige Vaterschaft ist für ihn ein wichtiger Punkt, den er in seine Biographie integrieren muss. Er kann nicht mehr nur für seine Person planen, sondern muss auch sein Kind mit einbeziehen, er hat „ja denn och bald Verantwortung“.
Besonders wichtig findet er die ersten vier Lebensjahre, da „musst Du schon seh’n dass es einigermaßen vernünftig machst.“ Da seine Freundin die Erziehung allein nicht schaffen würde, darf er in dieser Zeit nicht im Knast sein. Und obwohl sowohl er als auch seine Freundin ausgesprochene Skins sind, ist beiden klar, dass die Erfüllung dieser Aufgabe in der Szene nicht möglich ist. Kindererziehung und Szeneleben schließen sich für ihn aus: „kann mich nich auf die Straße stellen, total besoffen, Kind im Arm, das jeht nich.“

Harry befindet sich in dieser Phase in einer ähnlichen sozialen Konstellation wie kurz nach der Wende. So stehen sich zwei gegenseitig ausschließende Welten gegenüber: die der Eltern bzw. der Gesellschaft und die der Szene.
Einige Faktoren haben sich aber auch grundsätzlich geändert. So hat er jetzt eine Freundin, die von ihm ein Kind bekommt und ihn auffordert sich zu ändern. Hinzu kommt, dass sie sich gut mit seiner Mutter versteht und dass sie ihn gemeinsam „in die Zange nehmen“, er solle „mit allem aufhören“. Die Schwangerschaft und die damit zusammenhängende Verantwortung ist in der zum Interviewzeitpunkt aktuellen Situation so dominant, dass die Freundin durchaus zur Welt der Eltern gezählt werden kann, auch wenn sie sich noch vor ein paar Monaten als „Skinheadgirl“ eindeutig bei der Szene verortete.
Vor einigen Jahren sah er sich mit einer Gesellschaft konfrontiert, die ihm seinen Lebensplan zerstörte und ihm deutlich zeigte, dass sie kein Interesse an seiner Person hatte. Auch seine Eltern schienen ihm gegenüber gleichgültig zu sein. Auf der anderen Seite gab ihm die Szene die Gemeinschaft, die er bei den Eltern und den neuen Institutionen nicht bekam.
Diese Einschätzung hat sich sehr verändert. Die Gemeinschaft in der Szene ist ihm immer noch wichtig, im Vordergrund steht aber der ausschließende Charakter der Szene. Es gibt keine Möglichkeit, sich sowohl in die Szene, als auch in die Normalität zu integrieren. Solange er in der Szene ist, wird er 'in der Luft hängen‘. So wie ihn sein Rechtssein an der Ausweitung der Gemeinschaft hinderte, so hindert ihn jetzt sein Skinsein an der Integration in die Gesellschaft. Das Leben in der Szene hat so den Charakter eines Fehltritts in seinem Leben, ist Ausdruck seiner Schwäche und hat entsprechende gesundheitliche Folgen, von denen er sich im Gefängnis erholen muss.
Aber auch sein Bild von der Gesellschaft und den Eltern hat sich geändert. Er steht der Normalität immer noch sehr kritisch gegenüber, aber gerade durch die harte Sanktion rückt sie ihm näher. Sie gewinnt an Kontur und zeigt ihm ihre Grenzen. Darüber hinaus scheint es in diesem Rahmen Personen zu geben, die in Ansätzen mit ihm seine Zukunft strukturieren wollen. Auch seine Eltern zeigen unter anderem durch ihre Besuche ein deutliches Interesse an seiner Person. Der Druck zur Integration in diese Welt wird darüber hinaus noch durch die Freundin verstärkt, die mit ihm das Kind aufziehen will.

Er hat die Wahl zwischen zwei Wegen: dem leichten Weg der Szene und dem schweren Weg der gesellschaftlichen Normalität. Wenn er seinen Schwächen nachgibt und sich verleiten lässt, wird er in der Szene leben, weiterhin in der Luft hängen und sein Kind nicht erziehen können.
Auf der anderen Seite wird die Integration von ihm zwar erwartet, aber durch die schlechten Strukturen der neuen Gesellschaft erschwert. Für diesen gesellschaftlichen Weg spricht trotz der Schwierigkeiten, dass es eine langfristige Orientierung gäbe, die Harrys Rollenbild eines Vaters entspricht.

 
   
Die Zukunft

Harry ist klar, dass sich beide Wege nicht vereinen lassen, er muss sich entscheiden. Dies fällt ihm nicht leicht. Die Szene ist weit weg und die ihn jetzt beeinflussenden Personen sprechen sich eindeutig für den gesellschaftlichen Weg aus. Er kennt aber auch seine Sehnsucht nach konkreter Gemeinschaft und seine Schwäche, sich leicht verleiten zu lassen. Er würde viele Freunde verlieren und auch einen wichtigen Teil seiner bisherigen Identität, das Skinsein. Er stellt sich konkret vor, wie er seinen Freunden erklären soll, dass er nichts mehr mit ihnen zu tun haben will. Er könne denen doch nicht sagen, dass sie „an allem schuld“ seien.
Wie bei den Eltern sieht er die große Bedeutung dieser Personen für seine jetzige Situation, schafft es aber nicht ihnen konkret Vorwürfe zu machen. Analog zu den Eltern löst er dieses Dilemma durch die Formulierung, dass sie „im Prinzip“ nicht „an allem schuld“ seien.
Trotzdem will er den Weg der Gesellschaft gehen und den Kontakt zu den Freunden abbrechen. Er will sich in die Welt der Eltern und der Normalität integrieren, will wie seine Brüder 'es schaffen‘, einen Beruf erlernen und eine Familie gründen. Er will, wie zu DDR-Zeiten ein konventionelles Leben führen.

Harry versucht wieder da anzuknüpfen, wo ihn die Wende aus der Bahn geworfen hat.
Obwohl er ablehnende Bescheide von der Bundeswehr bekommen hat, überlegt er: „Na ja, vielleicht geh ich zur Bundeswehr, wo ich schon immer eigentlich hin wollte.“ Die Zeit zwischen der Wende und der zweiten Inhaftierung erscheint so als zu überwindende Zeit der Schwächen. Auf der Seite der Gesellschaft zeigt sich die Schwäche in der durch die Wende hervorgerufenen geringen Einschlussfähigkeit.
Auf seiner Seite ist sie Ausdruck seiner leichten Verleitbarkeit. Diese Schwächen stehen einer guten Integration entgegen. Was es in der neuen Gesellschaft heißt, sich zu integrieren, ist ihm nicht klar. Demzufolge greift er den Integrationsmodus wieder auf, den er in der DDR kennen gelernt hatte. Damals wurde die Ausgrenzung dadurch überwunden, dass er sich anpasste und sich auf der anderen Seite Personen um ihn gekümmert haben bzw. ihn versorgten.
Obwohl er gerade beklagt, dass die Gesellschaft anders geworden ist, legt er seiner Integration in die widersprüchliche Gesellschaft das Paar Anpassung ? Versorgung zugrunde. Er ist bereit, sich von der ihm wichtigen Skinszene zu distanzieren und sich so zu verhalten, wie es „der Staat für richtig hält“, also nicht mehr mit dem Gesetz in Konflikt zu kommen und zu versuchen „die Miete pünktlich zu bezahlen, alles sowas.“ Auf der anderen Seite geht er wie vor der Wende von einer finanziellen Versorgung durch die Eltern aus.
Aber auch mit der Gesellschaft scheint er diesen imaginären Handel abgeschlossen zu haben: „Ich meene von mir wird och viel verlangt, da wer ich wohl wenigstens mal een Lehrstellenplatz irgendwo verlangen dürfen.“ Er scheint mit der Gesellschaft ein Projekt der Wiedereingliederung seiner Person durchzuführen. Aus dieser Perspektive wäre es ein Fehler der Gesellschaft, ihn weiter einzusperren. Er gesteht seine Tat ein, „bloß im Prinzip is das so, wenn ich mich frei entfalten soll, wie soll ich denn das machen, wenn ich nach da nur so’n Stückchen Platz habe, nach, is doch Quatsch.“
Bezüglich der gesellschaftlichen Seite ist er erst einmal ganz zuversichtlich und geht davon aus, dass er in der nächsten Woche entlassen wird. Für ihn wäre es dann „wirklich die Möglichkeit, den Start jetzt eben wahrzunehmen.“
Starten hieße aber vor allem, dass das abstrakte Integrationsprojekt 'Anpassung gegen Versorgung’ konkret umgesetzt werden müsste. Bei seinen Eltern scheint er sich bezüglich der Versorgung sicher zu sein. Unsicher ist er sich der Gesellschaft und seiner Person gegenüber. Die Gesellschaft ist ihm nicht transparent und so weiß er nicht, ob er tatsächlich in einer Woche wieder frei, oder die nächsten Jahre inhaftiert ist. Auch weiß er nicht, ob er eine Umschulung oder eine Lehre angeboten bekommt oder ob er evtl. sogar zum Bund kann.

Ihm ist aber auch nicht klar, wie er sich selbst bei den Aufgaben, die vor ihm liegen tatsächlich verhalten wird. Er muss sein Leben völlig neu strukturieren: „ich fang jetzt wieder bei 0 an“ und er muss die konkrete Beziehung zu den Freunden neu definieren. Er muss ihnen klar machen, dass sie nicht an allem schuld sind, dass er weiterhin die Musik und die Konzerte gut findet, aber diese nicht mehr mit ihnen zusammen erleben will. Hier ist seine Schwäche der Verleitbarkeit von großer Bedeutung. Wird er es tatsächlich schaffen, den „Begrüßungsjoint“ abzulehnen? Harry ist sich hier nicht sicher. Es gibt aber noch eine weitere wichtige Ungewissheit.
Er hat nicht verstanden, warum er so ist, wie er ist. Ihm ist aber klar, dass er seine Person ändern muss, um ein anderes Leben zu führen. „Ich versuch’s zu ändern aber ob ich’s kann ist die zweete Frage und vielleicht mit Gewalt, möchte es och ändern, aber wie jesagt, muss ich erst seh’n wenn ich wieder draußen bin ob’s läuft.“ Was 'es‘ ist, was er ändern muss bleibt offen. So kann er auch keine Strategie entwickeln 'es‘ zu ändern.
Die Chancen für einen positiven Ausgang der Integration scheinen trotz seines Willens, sich anzupassen aufgrund der Ungewissheiten eher schlecht. Falls die Gesellschaft ihren Teil nicht beisteuert und ihn z.B. nicht demnächst freilässt, „dann werden sie’s Resultat dann haben.“ In dem Fall werde er mehr Terror machen, als er in seinem ganzen Leben zusammen gemacht habe. Ihm sei dann „sowieso alles egal.“

Er droht also im Falle einer weiteren Ausgrenzung, sich mit dieser Position des Ausgegrenzten zu arrangieren und entsprechend zu verhalten. Dann würde die Ausgrenzung als Äußerer Konflikt eskalieren. Die Distanzierung, die er mit sechzehn vollzogen und später relativiert hatte, würde er dann als einen endgültigen Schritt wiederholen. Für diesen Schritt wäre die Gesellschaft verantwortlich.
Es besteht aber auch die Gefahr, dass er sich verleiten lassen würde, „na da geht es wieder los, der ganze Scheiß.“ Er würde die Gestaltung seines Lebens aus der Hand geben bzw. an einen Teil seiner Persönlichkeit abgeben, den er nicht versteht. Er wäre dann in einer Situation, die ähnlich ist wie kurz vor der Inhaftierung. Er würde ein Leben führen, das er eigentlich nicht führen will, ohne jemanden konkret dafür die Schuld geben zu können. Er wäre ausgegrenzt, ohne die Grenzen genau benennen zu können. Er würde weiterhin 'in der Luft hängen‘.