Methode:

Naturnah forschen

Reich war Psychoanalytiker, Mediziner, Soziologe, Physiker, Meteorologe, Biologe usw. usw. Zumindest hat er in all diesen Disziplinen geforscht und grundlegende Aussagen getroffen. Diese Vielfalt und Intensität der Aussagen sind erst einmal verwirrend. Es ist so nicht einfach, Reich zu folgen.

Ich bin in diesem Buch einen anderen Weg gegangen. Nicht so sehr die inhaltlichen Forschungsergebnisse in den einzelnen Gebieten haben mich interessiert, sondern die Forschungsweise, die ihn von einem Ergebnis zum nächsten führte. Nicht das 'Was', sondern das 'Wie' steht im Zentrum dieses Buches.

Das Buch kann als Einführung in Reichs Denken und Arbeiten gelesen werden. Indem die Grundlagen seiner Forschungsweise klarer werden, ist es einfacher, die inhaltlichen Aussagen nachzuvollziehen.

Aber auch der Kenner der Orgonomie findet hier Einblicke in Reichs Werk, die in dieser Zusammenstellung noch nicht veröffentlicht wurden.

Auch für den methodologischen Diskurs außerhalb der Orgonomie gibt es in diesem Text weiterführende Einblicke

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ISBN 3-934391-02-8, Euro(D)14,80 /sFr 26

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Überblick
Es folgen einige kurze Hinweise auf einzelne Argumentationsstränge des Buches - nicht mehr und nicht weniger. Es sind die Appetitshappen, die neugierig auf die ausführliche Thematisierung machen sollen.  
Entwicklung zum Orgonomischen Funktionalismus

Der Orgonomische Funktionalismus ist nicht von der Person Wilhelm Reich zu trennen. Im Kapitel 2 wird Reich anhand seiner Biographie kurz vorgestellt.

Auch wenn der Orgonomische Funktionalismus nie als fertiges Gebäude präsentiert wurde, so kann man doch ab den 40er Jahren zumindest von einem Rohbau sprechen. Bis hier her hat Reich aber schon ca. 20 Jahre in anderen Modellen und gearbeitet, bis sie ihm zu eng wurden und er sein eigenes Modell formulierte.

Der Orgonomische Funktionalismus steht also in einer Tradition, die im 3. Kapitel dargestellt und diskutiert wird.

Die Frühphase

Schon zu Beginn der 20er Jahre verortete er sich innerhalb des Spannungsfeldes zwischen einer mechanistischen und vitalistischen Weltsicht.

"Die Frage 'Was ist Leben?‘ stand hinter jedem neuen Wissenserwerb."
"Die Vitalisten schienen mir immer dem Verständnis des Lebensprinzips näher zu sein als die Mechanisten, die das Leben zerschnitten, ehe sie es zu begreifen versuchten."
"In der medizinischen Arbeit war ich Mechanist und gedanklich eher allzu systematisch [...]. Aber gleichzeitig wurde ich von der Metaphysik gefesselt."[1]

Neben Autoren wie Henri Bergson und Hans Driesch las Reich intensiv die 'Geschichte des Materialismus' von Friedrich Albert Lange. [2] Daneben spielten sicher auch Autoren wie Ibsen, Nietzsche und Stirner eine Rolle. [3]
Auf der Suche nach Schritten aus dem Spannungsverhältnis beschäftigte Reich sich ebenfalls mit Autoren wie Semon, Kammerer, Jung, Forel und eben Freud.

[1] Die Entdeckung des Orgons, S.27-29
[2] Lange...
[3] vgl. Laska URL von LSR

Die Psychoanalyse

In Freud traf Reich meines Erachtens nach einen Forscher, der sich in einem ähnlichen Spannungsfeld bewegte, aber schon wesentlich erfahrener war als Reich.

"Freud selbst durchlief unter dem Einfluss von Goethe, einem ihrer ersten Pioniere, eine kurze Periode pantheisteischer Naturphilosophie. Dann fiel er in seiner Begeisterung für die Rivalin, die physikalische Physiologie, ins andere Extrem und wurde für einige Zeit ein radikaler Materialist." [4]

Im Gegensatz zu den Vitalisten, die die Lebenskraft metaphysisch erklärten, wies Freud mit dem energetischen Denken einen Weg, auch die Psychologie naturwissenschaftlich zu erforschen.
Reich griff diesen Faden begierig auf und suchte die energetische Basis der Sexualität, der Psychologie, des Lebens und später eben auch z.B. des Denkens.

[4] Jones, Ernest: Das Leben und Werk von Sigmund Freud Bd. 1, Bern 1962, S.65

Der Dialektische Materialismus

In seiner Beschäftigung mit dem Marxismus lernte Reich auch den Dialektischen Materialismus als Grundlage weiterer Forschungen schätzen. Hier lernte er Denkstrukturen, Prozesse weder mit dem "Zweckprinzip in der Natur" noch mit dem "mechanischen Kausalismus" beschreiben zu müssen. [5] Dies führte ihn später direkt zum funktionalistischen Denken.

Außerdem lernte er hier verstärkt sehr unterschiedliche Wissensgebiete wie die Psychologie, die Biologie und die Soziologie direkt aufeinander zu beziehen.

[5] Die Bione S.100]

Die innere Logik

Reich hat für seine Forschungen immer eine innere Logik beanspruch. In diesem Abschnitt gehe ich auf der Basis der vorher dargestellten Phasen der Frage nach, ob diese innere Logik auch bei der Entwicklung zum Orgonomsichen Funktionalismus gegeben ist und wie sie aussieht.

 
Zentrale Begriffe des Reich'schen Denkens

Ich greife einzelne Aspekte aus dem Kapitel heraus.

Funktionalistisches Denken

Im funktionalistischen Denken geht es um nichts weniger als den Aufbau der Natur im Denken nachzuvollziehen. Im Vordergrund stehen dabei die Beziehungen zwischen einzelnen Einheiten. Schon in der Phase des Dialektischen Materialismus hatte er geschrieben:

"Gegensätze sind nicht absolut, sondern sie durchdringen einander [...]. Jede Ursache einer Wirkung ist gleichzeitig Wirkung dieser Wirkung als Ursache. Das ist nicht einfach Wechselwirkung streng voneinander getrennter Phänomene, sondern ein gegenseitiges Durchdringen und Aufeinanderwirken." [6]

Später wurde klar, dass er diesen Zusammenhang nur befriedigend beschreiben kann, wenn mit der beiden zugrunde liegenden Funktion ein weiterer Bezugspunkt eingeführt wird. In dieser Funktion sind die Gegensätze identisch. Funktionalistisch denken heißt demnach immer gleichzeitig in den Unterschieden (bzw. Gegensätzen) und der Identität denken.
Das nebenstehende Symbol veranschaulicht das Gesagte.

Am Beispiel der Beziehung zwischen Körper und Psyche wird diese Herangehensweise vom 'mechanischen Materialismus' (zu dem auch Freuds Triebtheorie gezählt werden muss), dem 'metaphysischen Idealismus', dem 'psychophysischen Parallelismus' und monistischen Vorstellungen abgegrenzt.

Gleichungen

Um dieses Denken klarer darstellen zu können hat Reich eine eigene Formelsprache entwickelt, in die eingeführt wird.

usw.
[6] Dialektischer Materialismus und Psychoanalyse S.161

Verhältnis Mensch <-> Natur

Reich unterschied in der Natur "drei große Funktionsgebiete der mechanischen Energie, der toten Masse und der lebenden Materie" [7]
"Das Lebendige enthält die gleichen Mechanismen wie das Nichtleben: Mechanik, Elektrik, Chemie. Leben ist also gleich Nichtleben. Doch gleichzeitig sind im Lebendigen die Funktionen des Anorganischen in einer besonderen, eben nur für das Lebendige charakteristischen Weise kombiniert. Leben ist also gleichzeitig etwas völlig anderes als Nichtleben." [8]

Der Mensch wiederum ist in seiner Ausbildung der Vernunft, der sozialen Ebene, des Selbstbewusstseins usw. nur eine spezifische Variation der allem Leben zugrunde liegenden Lebensfunktion.

Der Mensch ist in diesen Variationen unterschiedlich zur restlichen Natur, aber in den zugrunde liegenden Funktionen mit ihr identisch. Der Mensch ist Natur.

Und trotzdem entdeckte Reich ein spezifisches Merkmal, dass er so nur beim Menschen sah: Es gibt Menschen, die sich gegen die eigene Natur wenden. [9] Dies hat weitreichende Konsequenzen für die individuelle Struktur, für die soziale Struktur und demzufolge auch für die Wissenschaft.

Dieser Widerspruch gegen die eigene Natur hat "sich tief im biologischen System der Menschen verankert. Sie hat dabei das Funktionieren des Menschen tatsächlich maschinell verändert.[...] Er verpanzerte sich gegen das Nützliche und Spontane in ihm, verlor den Kontakt mit der biologischen Selbststeuerungsfunktion und ist von schwerer Angst vor dem Lebendig - Freien erfüllt.[...] Der sogenannte Kulturmensch wurde tatsächlich eckig, maschinell, ohne Spontanität, d.h. er entwickelte sich zu einem Automaten und einer 'Hirnmaschine'. Er glaubte also nicht bloß, daß er wie eine Maschine funktioniert, sondern er funktioniert tatsächlich automatisch, mechanisch-maschinell." [10]

Parallel zu dieser mechanistischen Umgestaltung bildet sich der mystische Bereich heraus, in dem das Leben als etwas Abgespaltenes wahrgenommen wird.

Der 'homo normalis' tritt als mechanistisch - mystische Struktur auf.

In diesem Abschnitt wird diese Struktur ausführlich hergeleitet und dargestellt. Reichs verschiedenen Ansichten über die Entstehung dieser Struktur werden kritisch diskutiert.

[7] Äther, Gott und Teufel S.92
[8] Der Dialektische Materialismus in der Lebensforschung S.141
[9] vgl. die Bremsung
[10] Die Massenpsychologie des Faschismus S.302/303

Wahrnehmung der Natur

Auch wenn Reich zur Überprüfung seiner Thesen ausgiebige Laborexperimente auch mit hohem technischen Einsatz durchführte stand fest:

Das zentrale Werkzeug der orgonomisch funktionalistischen Forschung ist der Forscher. [11]

Dies lenkt den Blick auf die Wahrnehmung bzw. auf die Beziehung zwischen dem Forscher und seinem Forschungsobjekt. Was ist Wahrnehmung? Auf welchen Ebenen findet alles Wahrnehmung statt? Welche Faktoren bestimmen die Qualität der Wahrnehmung? usw.

Organempfindung

Die grundlegendste Wahrnehmungsfunktion ist die so genannte 'Organempfindung'.

[11] vgl. Cosmic Orgone Energy and 'Ether' S.156

Dazu ein etwas längerer Textausschnitt:

"In seinen Forschungen zu den grundlegenden Funktionen des Lebendigen konstatierte Reich einen Urgegensatz zwischen Lust und Angst. Alle Gefühlsäußerungen in ihrer ganzen Differenziertheit lassen sich demzufolge auf diesen Gegensatz reduzieren. Um dies genauer zu untersuchen setzte er z.B. Amöben verschiedenen Reizen aus. Auf lustvolle Reize reagierten die Amöben mit einer Ausdehnung des Plasmas, also einer Bewegung vom Zentrum zur Peripherie, sie expandierten. Auf Reize wie z.B. Stromstöße reagierten sie mit einer entgegengesetzten Bewegung, Körperflüssigkeit strömte aus der Perpherie ins Zentrum, das Plasma kontrahierte. [12]
Reich untersuchte diesen Zusammenhang noch genauer und kam zu dem Schluß, daß die Angst funktionell identisch sei mit der kontrahierenden Bewegung des Protoplasmas. "Ebenso ist die sexuelle Lust im weitesten und engsten Sinne, jede Empfindung vom einfachsten gelockerten Wohlbefinden bis zur sinnlichen Erregungsspannung, die innere Wahrnehmung der vagischen Funktion der Expansion [...] mit dem physiologischen Vorgang funktionell identisch." [13] Das heißt, die Angst (bzw. die Lust) ist als psychischer Affekt nicht die Folge oder Reaktion auf die Bewegung des Plasmas, sondern mit ihr identisch im Ausdruck einer biologischen Erregung.

Eine Erregung des gesamten Organismus drückt sich als Angst und als Kontraktion des Plasmas aus. Dieser Mechanismus wurde schon in Bezug auf den Gegensatz Körper <-> Psyche genauer beschrieben.

Ein und dieselbe Erregung war demnach aus verschiedenen Perspektiven zugänglich. Die Psychoanalytische Therapie beschränkte sich auf den Ausdruck der Psyche und auf die Wortsprache der Patienten. Reich akzeptierte diese Grenze nicht mehr, er war der festen Überzeugung, daß das Lebendige "seine eigenen Ausdrucksformen der Bewegung [habe], die mit Worten überhaupt nicht zu fassen sind". [14]

Als Beispiel führt er die Emotionen an, die beim Musikgenuss empfunden werden können.
"Die Musik ist wortlos und will es bleiben. Sie ist trotzdem ein Bewegungsausdruck des Lebendigen und ruft im Hörer 'Ausdruck' und 'Bewegtheit' hervor." [15]

Ausdruck ist also etwas, das weit über die sprachlichen Möglichkeiten hinausgeht. Schon der Terminus 'Ausdruck' weist für Reich auf einen zentralen Zusammenhang hin: etwas wird "'aus' oder 'herausgedrückt' und daher 'bewegt'. Nichts anderes als das Vorquellen des Protoplasmas, also die Expansion oder Kontraktion, kann gemeint sein." [16] Der Ausdruck ist demzufolge eine spezifische Bewegung, eine 'Ausdrucksbewegung', die wiederum nichts anderes als die 'Emotion' ("Herausbewegung") ist. Eine Emotion ist also eine einen Ausdruck vermittelnde Plasmabewegung. [...]

Mit dieser Definition ordnet er die Emotion dem Bereich der Lebensfunktion zu und macht sie gleichzeitig zu einer der physikalischen Naturbetrachtung zugänglichen Funktion. Das Lebendige reagiert also auf einen Reiz mit einer autonomen (Plasma-) Bewegung, der Emotion. "Wir wissen, daß ein Organismus den Reiz empfunden hat, wenn er darauf mit Bewegung antwortet. Die emotionelle Reizantwort ist faktisch identisch mit der Empfindung" [17] Das heißt "eine biophysikalische Plasmaerregung vermittelt eine Empfindung, und eine Empfindung drückt sich in einer Plasmabewegung aus." [18] Empfindung und Emotion sind beides Funktionen einer den ganzen Organismus betreffenden Erregung.
Man kann sich die Empfindung als Grenzmembran zwischen dem lebenden Organismus und der Umgebung vorstellen. Mittels dieser Grenzmembran tastet der Organismus die Wirklichkeit ab. "Die langsam tastenden welligen Bewegungen tierischer Fühler und Tentakel veranschaulichen, was gemeint ist." [19] Diesen Vorgang nennt Reich Organempfindung oder auch orgonotisches Urteilen ("orgonotic reasoning" [20])."

 

 

[12] Reich: Die vegetative Urform des Libido-Angst - Gegensatzes, in: Zeitschr. f. pol. Psychologie u. Sexualökonomie Bd.1, Kopenhagen 1934 S.207/208
[13] Sexualität und Angst S.71
[14] Charakteranalyse S.363
[15] Charakteranalyse S.363
[16] Charakteranalyse S.363
[17] Äther, Gott und Teufel S.81
[18] Charakteranalyse S.361
[19] Äther, Gott und Teufel S.89
[20] Cosmic Superimposition S.116

Diese Art der Wahrnehmung ist beim einfachsten und komplexesten Lebewesen gegeben. Beim Menschen bauen da noch weitere Funktionsbereiche der Wahrnehmung drauf auf. So werden z.B. die Plasmabewegungen (Emotionen) nicht einfach vollzogen, sondern wiederum wahrgenommen (Psyche).  

Qualität der Wahrnehmung

"Natural - scientific [zu der auch die Sozialwissenschaften gehören] research is an activity which rests on the interaction between observer and nature, or, expressed differently, between orgonomic functions within and the same functions without the observer. Thus, the character structure and the senses of perception in the observer are major, if not decisive, tools of natural research."[21]

Wie oben schon angedeutet wurde, kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Forscher sich seiner Lebensfunktion in den verschiedenen Variationen einfach hingibt. Es ist wahrscheinlicher, dass er bestimmte Bewegungen des Plasmas zurückhält oder sich gegen die Wahrnehmung bestimmter Emotionen sträubt.

Reich sah sich häufig mit diesem Problem konfrontiert: Menschen, die sich den unwillkürlichen Bewegungen des Orgasmus nicht hingeben konnten, Forscher, die sich weigerten durch sein Mikroskop zu schauen usw.

"Ich habe es an mir selbst und an vielen Mitarbeitern immer wieder erlebt, daß das Festhalten an starren Grenzen und Gesetzen die Funktion hat, psychische Unruhe zu ersparen. Indem wir das Bewegte erstarren lassen, fühlen wir uns merkwürdigerweise weniger bedroht, als wenn wir ein bewegtes Objekt erforschen." [22]

In der Biologie kann dies z. B. heißen: "Aus methodischen Gründen der Sicherheit tötet man das Lebendige, um am Getöteten das Leben zu studieren. Das Ergebnis müssen mechanistische Vorstellungen über das Leben sein." [23]

Es gibt keine Forschung, die unabhängig von der Charakterstruktur des Forschers besteht. Vorstellungen von Trennung, Exaktheit usw. geben nicht die Natur, sondern allenfalls die eigene mechanistische Struktur wieder.

Es führt kein Weg daran vorbei neben den anderen Forschungswerkzeugen auch die Qualität der Wahrnehmungsfunktionen der Forschers zu bearbeiten. Dies gilt auch für weitere Variationsstufen wie z.B. dem vernünftigen Denken.

[21] Cosmic Orgone Energy and 'Ether' S.156; ähnliche Aussagen vgl. Äther, Gott und Teufel S.131 und Orgonomic Functionalism Part II Jan 50 S.2 ; Naturwissenschaftliche Forschung ist eine Tätigkeit, die auf Interaktion zwischen Beobachter und Natur beruht, oder anders ausgedrückt, zwischen den orgonomischen Funktionen innerhalb und denselben Funktionen außerhalb des Beobachters. Von daher sind die Charakterstruktur und die Wahrnehmungsfähigkeit des Beobachters bedeutende, wenn nicht sogar die entscheidenden Werkzeuge der Naturforschung.
[22] Äther, Gott und Teufel S.99
[23] Die Bione S.94
Der Orgonomische Funktionalismus

Nachdem notwendige Grundlagen geklärt sind wird der Orgonomische Funktionalismus als eine Wissenschaftsform dargestellt:[24] Die folgenden Punkte sind als grobe Hinweise zu verstehen.

Der Orgonomische Funktionalismus als Wissenschaft

Wissenschaft ist für Reich ein Werkzeug die Natur zu bewältigen. Er verstand sich immer als Wissenschaftler und legte viel Wert darauf auch als solcher angesehen zu werden. Er schrieb aber auch: "Die wissenschaftliche Theorie ist, betrachtet vom Standpunkt des lebendigen Lebens, ein künstlicher Haltepunkt im Chaos der Erscheinungen. Sie hat daher den Wert eines seelischen Schutzes. Man droht nicht zu versinken in diesem Chaos, wenn man die Erscheinungen fein säuberlich eingeteilt, registriert, beschrieben hat und somit verstanden zu haben glaubt." [25]
Diese Spannung drückt sich auch im Orgonomischen Funktionalismus aus.

Der eigene Weg des Orgonomischen Funktionalismus?

Ausgehend von der Psychoanalyse und dem Marxismus löste sich Reich immer stärker von diesen Wurzeln und ging sowohl inhaltlich als auch methodisch seinen eigenen Weg.
Die Entwicklung des Orgonomischen Funktionalismus fand also immer auch in Abgrenzung zu konventionellen Inhalten und Methoden statt. Darüber hinaus musste er sich auf Gebieten beweisen, die in dieser Art wissenschaftliches Neuland waren.
Dies kann durch folgende Aussagen veranschaulicht werden:

"Der Zustand läßt sich am besten wie folgt beschreiben: Wie mit einem Schlage erkennt man die wissenschaftliche Nichtigkeit, die biologische Sinnlosigkeit und die soziale Schädlichkeit von Anschauungen und Einrichtungen, die bis zu diesem Zeitpunkt ganz natürlich und selbstverständlich erschienen." Wie er schrieb, traf ihn dieses Erlebnis "in einer behaglichen Angepaßtheit an das übliche Denken" und hinterließ eine tiefe Skepsis gegenüber allem, was zum üblichen Denken gehörte. [26]
Diese "Forschungsarbeit hat also neben der Bewältigung des Unbekannten noch die Aufgabe, sich mit dem gewohnten Denken auseinanderzusetzen, es zu widerlegen, auf anderer Basis zu bestätigen oder auszuführen." [27]

Der Forscher als zentrales Werkzeug der Forschung

Im Gegensatz zu anderen geht Reich nicht davon aus, dass der Forscher als Fehlerquelle aus den Forschungsprozess herausgehalten werden kann noch sollte.
Seine Wahrnehmungsfunktionen sind vielmehr von zentraler Bedeutung. Bei der Qualität des Werkzeugs legt Reich einen ungewöhnlichen Maßstab an. So kritisiert er häufig die rigide Struktur mechanistischer Wissenschaftler und deren eingeschränkte Fähigkeit lebendige (und bewegte) Prozesse wahrzunehmen und zu durchdenken.

Reich beschreibt in einer "Charakteranalyse eines außerordentlich begabten, aber gehemmten Physikers der klassischen mechanistischen Schule" dessen frühe Kindheitserfahrungen, die "als dauernde Hemmungen seiner Hingabefähigkeit und als Block seiner Organempfindungen" ihre Spuren hinterließen.
"Unser Physiker wollte sich der Orgonbiophysik widmen, von deren Richtigkeit und Bedeutung er überzeugt war. [...] Doch so oft er praktisch an die Arbeit heran sollte, stellte sich eine schwere Hemmung ein, deren Kernstück die Angst vor völligem Gehenlassen, vor restloser Hingabe an die eigenen Körperempfindungen war. Im Prozesse der Orgontherapie wiederholte sich der Vorgang des Vorstoßens und angstvollen Zurückschreckens so oft und in so typischer Weise, daß an der Identität der Angst vor den Organempfindungen und der Angst vor wissenschaftlicher Orgonforschung kein Zweifel aufkommen konnte. Die Haßreaktionen, die dabei zur Entwicklung kamen, waren nun die gleichen, denen man im gewöhnlichen Verkehr mit Physikern oder Ärzten in Frage des Orgon begegnet." [28]

In diesem Maßstab liegt eine große Sprengkraft aber auch ein großer Diskussionsbedarf. Müssen jetzt alle Wissenschaftler erst eine Orgontherapie mitmachen?

Der Forschungsgegenstand

"Da alles in der Natur miteinander in der einen oder anderen Weise zusammenhängt, ist das Thema 'Orgonomischer Funktionalismus' praktisch unerschöpflich." [29]

Sowohl sehr grundlegende physikalischen Fragen, als auch soziale Themen sind dem Orgonomischen Funktionalismus zugänglich.

Komplexität

Im Gegensatz zur mechanistischen Perspektive stehen hier die Funktionen im Vordergrund.

"Da nun Stoffe und Strukturen unendlich kompliziert, die primitiven Bewegungen und Energieprozesse des Lebendigen dagegen äußerst einfach und der Beobachtung zugänglich sind, haben wir einen neuen und hoffnungsvollen Standort erobert." [30]
"Sämtliche existierende Funktionen werden im Fortschritt der Erkenntnis einfacher und nicht komplizierter. [...] Für den Mechanisten und den Metaphysiker wird die Welt um so komplizierter, je weiter das Wissen über Tatsachen und Funktionen fortschreitet. Dem Funktionalisten werden die Naturprozesse einfacher, heller und durchsichtiger." [31]

Aber auch hier gilt:

"Forschung ohne Irrtümer ist unmöglich. Alle Naturforschung ist, und zwar von jeher, tastend, 'ungesetzlich', labil, schmiegsam, ewig korrigierend, in der Schwebe, ungewiß und unsicher und dennoch in Kontakt mit realen Vorgängen. Denn diese realen Naturvorgänge sind bei aller Grundgesetzlichkeit variabel im höchsten Grade, frei im Sinne von Ungesetzlichkeit, unberechenbar und unwiederholbar." [32]

 

Ich gehe davon aus, dass diese ausgewählten Hinweise und Zitate einen groben Einblick in das Kapitel geben.

[24] vgl. Emotionen ...
[25] Die Entdeckung des Orgons S.39
[26] Menschen im Staat S.4/5
[27] Die Bione S.91
[28] Äther, Gott und Teufel S.80/81
[29] Äther, Gott und Teufel S.13
[30] Äther, Gott und Teufel S.103/104
[31] Äther, Gott und Teufel S.95/96
[32] Äther, Gott und Teufel S.79
Orgonomischer Funktionalismus - eine diskussionswürdige Alternative?

Im letzten Kapitel werden zentrale Aussagen diskutiert. Ich folge dabei immanten und exmanenten Fragestellungen.

Dabei werden z.B. auch Reichs Naturbegriff und die Person Wilhelm Reich als orgonomischer Funktionalist hinterfragt. Außerdem werden Fragen zur Aktualität des Ansatzes bearbeitet

 

Zum Schluss ein Zitat des amerikanischen Wissenschaftshistoriker Morris Berman:

"Wer weiß denn nun mehr von der Natur, von der 'Wirklichkeit'? Derjenige, der sie umarmt und liebkost, oder der, der sie mit Gewalt nimmt, sie belästigt, wie Bacon uns drängte? Es ist die epistemologische Folge von Reichs Arbeit, daß Gewißheit über die Wirklichkeit zu haben vom Lieben abhängt - ein bemerkenswerter Schluß." [33]

[33] Berman a.a.O. S.194
   
Gliederung
1 Einleitung
2 Zur Biographie Wilhelm Reichs
3 Reichs Entwicklung zum Orgonomischen Funktionalismus
  3.1 Die Frühphase
  3.2 Die Psychoanalyse
  3.3 Der Dialektische Materialismus
  3.4 Die innere Logik
vgl. Entwicklung zum Orgonomischen Funktionalismus
4 Zentrale Begriffe des Reich'schen Denkens
  4.1 Die Entdeckung des Orgons
  4.2 Funktionalistisches Denken
    4.2.1 Zum Begriff 'Funktion'
    4.2.2 Zum Begriff 'Funktionelle Identität'
    4.2.3 Funktionelle Identität am Beispiel Körper - Psyche
  4.3 Zum Naturbegriff
    4.3.1 Die Funktionsgebiete der Natur
  4.4 Das widersprüchliche Verhältnis Mensch - Natur
    4.4.1 Das Schichtenmodell
    4.4.2 Zum Gesundheitsbegriff
    4.4.3 Der normale mechanistisch-mystische Mensch
    4.4.4 Zur Entstehung der 'Widernatur' des Menschen
  4.5 Die Wahrnehmung der Natur
    4.5.1 Die Organempfindung
    4.5.2 Die Organempfindung des gepanzerten Organismus
    4.5.3 Das bewusste Denken
    4.5.4 Das irrationale Denken
 
5 Der Orgonomische Funktionalismus
  5.1 Zum Wissenschaftsverständnis Reichs
  5.2 Zur Entwicklung des Orgonomischen Funktionalismus zu einer eigenständigen Wissenschaftsform
  5.3 Zur Person des Forschers in der Forschung
    5.3.1 Der 'homo normalis' als Forscher
    5.3.2 Grundlagenforschung im Neuland
    5.3.3 Zum Forschungsgegenstand
    5.3.4 Zur Methodik und Vorgehensweise
    5.3.5 Anforderungen an den orgonomisch funktionalistischen Forscher
 
6 Orgonomischer Funktionalismus - eine diskussionswürdige Alternative?
  6.1 Eine Wissenschaft im Einklang mit der Natur?
  6.2 Eine Wissenschaft im Einklang mit dem Leben?
  6.3 Zur Person Reichs als orgonomisch funktionalistischer Forscher
  6.4 Zur Aktualität des Orgonomischen Funktionalismus
  6.5 Persönliche Schlussbemerkungen
 
 
Klappentext  

Forschen im Einklang mit der Natur?

"Das gleichzeitige Denken von Detail und Ganzheit ist eine Voraussetzung für die Produktivität der wissenschaftlichen Forschung." Wilhelm Reich

Thema des Buches ist die theoretische Grundlage der Forschungen des Arztes und Naturwissenschaftlers Wilhelm Reich, auf die der heute viel benutzte Begriff der Ganzheitlichkeit in besonderem Maße zutrifft. Reich nennt seine Denkweise funktionelles Denken bzw. orgonomischen Funktionalismus. Als Parademodell für Reichs Methode gelten die gegensätzlichen Funktionen des Sympathikus und des Parasympathikus, die nur auf Basis der funktionellen Einheit des vegetativen Lebens verständlich werden. Funktionell denken heißt für Reich, die vielfältigen Wirkungszusammenhänge der Natur - vor allem der lebendigen Natur - als grundsätzliche Ausdrucksformen bestimmter Grundfunktionen zu erkennen. Reich hat den erkenntnistheoretischen Hintergrund seiner Arbeit nie zusammenhängend dargestellt.
Dem Autor Ingo Diedrich ist es gelungen, durch intensives Quellenstudium die Essenz der Reich'schen Denkweise herauszuarbeiten, zu hinterfragen und in anschaulicher Form darzulegen.