Mit großem Interesse habe ich den Artikel: "Die
Hexenverfolgung oder: Zur Durchsetzung sexualfeindlicher Moral in Europa"
von Ottmar Lattorf gelesen. Es hat Spaß gemacht, die Fülle
von anschaulichen Beispielen zu lesen und seiner Argumentation zu folgen.
Der Artikel hat in seinen Thesen aber auch etwas Herausforderndes gehabt.
Da ich mich vor einiger Zeit ebenfalls mit der Thematik auseinandergesetzt
habe, kam mir einiges bekannt vor, anderes war mir wiederum neu und an
einigen Punkten habe ich mich richtig geärgert. Darum habe ich mich
entschlossen diese kurze Kritik zu schreiben. Mir geht es dabei weniger
darum, diesen konkreten Artikel auseinander zu nehmen, als vielmehr darum,
eine bestimmte Art der Argumentation, die auch hier zur Geltung kommt,
in Frage zu stellen. Einschränkend muss ich vorweg sagen, dass ich
weder ein ausgesprochener Kenner der Forschungen von James DeMeo bin,
noch Reichs Aussagen zum Thema DOR voll verstanden habe. Demzufolge werde
ich zu diesen Punkten, wohl wissend, dass sie wichtig sind, keine Aussagen
machen.
Meine Kritik betrifft vor allem zwei Bereiche:
1. Umgang mit den Quellen.
Leider wurde der Text ohne Quellenangaben ins Netz gestellt. Soweit ich
es übersehe bezieht sich Ottmar Lattorf in den wesentlichen Teilen
vor allem auf drei Autoren: Gunnar Heinsohn/ Otto Steiger: Die Vernichtung
der weisen Frauen, Norbert Elias: über den Prozess der Zivilisation
und Karl Heinz Deschner: Das Kreuz mit der Kirche. Alle Beispiele stammen
demzufolge aus Sekundärliteratur und zwar aus sehr umstrittener Sekundärliteratur,
was v.a. für Heinsohn/Steiger und Deschner gilt; Elias konnte sich
inzwischen weitgehend durchsetzen. Alle drei Autoren haben eine dezidierte
These, die sie mit ihrer Interpretation der herangezogenen Quellen belegen
wollen. Alle Beispiele, die Ottmar Lattorf anführt, sind stark interpretationsbedürftig
und werden von den jeweiligen Autoren entsprechend dargeboten. Diese Beispiele
zu zitieren, ohne gleichzeitig den Kontext darzustellen, in dem die Autoren
dies Beispiel angeführt haben, heißt, sie aus dem Zusammenhang
zu reißen. Zur Verdeutlichung: Elias hat eine Fülle von Beispielen
geliefert, die so aussehen, als würde er eine Gesellschaft darstellen,
die von freiem Umgang mit Sexualität geprägt ist. Seine Intention
war aber vielmehr, die Veränderung der Affektkontrolle über
mehrere Jahrhunderte darzustellen.
Der Umgang mit Sexualität wird also nur exemplarisch für den
Umgang mit Affekten beschrieben. Im gleichen Zusammenhang stellt Elias
auch den Umgang mit Aggression dar. Diese Seite verschweigt Ottmar Lattorf.
Ihm geht es um die Darstellung sexuell befreiter Menschen und er benutzt
dazu Beispiele, die eigentlich eine niedrige Affektkontrolle belegen sollen.
Darüber hinaus ist selbst die Interpretation der Quellen durch Elias
als geringe Affektkontrolle umstritten. So schreibt Hans Peter Duerr in
seine Antwort auf Elias: "Dass Männer und Frauen in den öffentlichen
Badstuben des Mittelalters, die im 12. Jahrhundert aufkamen, durchweg
gemeinsam gebadet hatten, wird zwar stets behauptet, ist aber noch nie
belegt worden. Schaut man sich die Quellen an, so sieht man bald, das
im Gegenteil weitaus die meisten dieser Bäder eine Geschlechtertrennung
hatten" (Hans Peter Duerr: Nacktheit und Scham, S.38). Das interessante
dabei ist, dass er sich in dieser Aussage genau auf die Quellen beruft,
die sowohl Ottmar Lattorf als auch Elias heranziehen, er interpretiert
sie nur anders und bringt dafür zahlreiche Argumente. Egal ob man
nun eher Elias oder Duerr zugeneigt ist, so muss doch gesagt werden, dass
die jeweilige Interpretation nicht so eindeutig richtig sein muss, wie
sie auf den ersten Blick scheint. Meine Kritik am Umgang mit den Quellen
lässt sich durch den Rahmen eines Aufsatzes relativieren. Auf wenigen
Seiten ist es kaum möglich, alles differenziert darzustellen. Das
Gesagte kann so auch eher als Ergänzung angesehen werden.
2. Das vertretene Geschichtsbild.
Diese Relativierung gilt allerdings nicht für diesen zweiten Kritikpunkt.
Dafür geht Ottmar Lattorf viel zu offensiv mit seinem Geschichtsbild
um. Im Zentrum meiner Kritik steht das dichotome Geschichtsbild, das hier
in der Auseinandersetzung mit dem Thema der Hexenverfolgung deutlich wird.
Der Autor konstruiert anhand der Kategorie das Sexualleben ein eindeutiges
"Vorher" und "Nachher" in die Geschichte, dazwischen
liegt ein klar zu benennender Umbruch in dieser Kategorie.
Diese Vorstellung ist nicht neu. So unterschied Hobbes zwischen dem Naturzustand
des Menschen und dem Leben in der Gesellschaft. Im Naturzustand galten
ihm die Menschen als reißende Wölfe, die nicht einmal vor der
eigenen Art halt machten. Aufgrund des einmaligen Gesellschaftsvertrages
gaben alle ihr Recht auf Gewaltausübung an das Gewaltmonopol des
Souverän ab. So konnten sie die Barbarei hinter sich lassen und der
moderne Staat, bzw. die zivilisierte Gesellschaft wurde geboren. Noch
bekannter ist die Paradiesgeschichte: Adam und Eva leben im Garten Eden,
sind nackt, schämen sich aber nicht - wir müssen im Schweiße
unseres Angesichtes leben. Dazwischen liegt die Vertreibung aufgrund des
Sündenfalls. Beide Schilderungen sollen mit unterschiedlicher Wertung
grundlegende Fragen unseres (zivilisierten) Menschseins verdeutlichen.
Aber beide beschreiben keine historischen Gegebenheiten, stellen auch
nicht den Anspruch. Beide wollen Prozesse aufzeigen, die nicht anhand
bestimmter Geschehnisse auf einer linearen Zeitskala markiert werden können.
Wie falsch es ist, z.B. Mythen aus dem damaligen Zusammenhang zu reißen
und historisch umzudeuten, hat gerade die katholische Kirche in Bezug
auf die Paradiesgeschichte gezeigt. Sie hielt lange am eindeutigen Beginn
der Menschheit bei Adam und Eva fest, obwohl die Evolutionstheorie längst
gezeigt hatte, dass diese sich langsam herausgebildet hatte. Man tut den
Mythen keinen Gefallen, sie in unser Wissenschaftssystem hineinzupressen.
Sie wollen als Mythen verstanden werden und nur so können sie eine
große Aussagekraft entwickeln.
Ottmar Lattorf vertritt in seinem Artikel nun genau so ein dichotomes
Geschichtsbild und er spricht nicht von Mythen und meint es nicht als
Modell, um komplizierte Prozesse zu verdeutlichen, sondern durchaus historisch.
Er konstruiert auf der linearen Zeitskala ein eindeutiges Vorher und Nachher.
Scheinbar alle wichtigen Probleme, die wir heute haben, scheinen in dem
Ereignis zwischen dem Vorher und dem Nachher begründet zu sein. Dieses
Ereignis ist für ihn die Hexenverfolgung und, noch weiter auf den
Punkt gebracht, der Hexenhammer. Die Hexenverfolgung als wesentlicher
Wendepunkt der Geschichte der Menschheit v.a. in Europa ist seine Hauptthese.
Es sollte klar sein, dass er sich damit in der Geschichtsauffassung weit
von Elias entfernt. Elias wollte einen Prozess, eine Entwicklung aufzeigen.
Es geht bei ihm nicht um eine Gegenüberstellung des unzivilisierten
Mittelalters versus zivilisierte Neuzeit, es gibt bei ihm keinen Nullpunkt
der Geschichte. Es gibt aber einen vielschichtigen, in sich widersprüchlichen
Prozess, den er in seiner Hauptrichtung darzustellen versucht. (vgl. Volker
Eichener: Norbert Elias, Hamburg 1991 S.90ff). Heinsohn und Steiger haben
letztlich die Gegenwart im Auge. Sie wollen die momentane Kindervernachlässigung
und raschen Geburtenrückgang in den gegenwärtigen Industriegesellschaften
erklären und formulieren dafür eine allgemeingültige ökonomisch
orientierte Theorie der Bevölkerungsentwicklung. "Unsere These
von der Herrschaft des wirtschaftlichen Kalküls bei der Fortpflanzung
besagt, dass die Aufzucht von Kindern nicht einem natürlichen Drang
folgt, sondern immer eine soziale Entscheidung erfordert, gleichgültig,
ob sie dem Interesse des Einzelnen entspricht oder ob sie ihm durch das
jeweils in der Gesellschaft dominierende Interesse aufgeherrscht wird.
Damit bestreiten wir das Auftreten eines Wunsches nach Kindern nicht,
wohl aber, dass er naturgegeben sei." (Heinsohn / Steiger: Menschenproduktion
S.11 u. S.12) Diesen Zusammenhang zwischen ökonomischem Interesse
und Kinderproduktion versuchen sie auch (nicht nur) am guten Beispiel
der Hexenverfolgung aufzuzeigen. Ihnen geht es nicht darum, einen Nullpunkt
in die Geschichte zu konstruieren, sondern ihre allgemeine Bevölkerungslehre
zu belegen.
Wer, wie Ottmar Lattorf, dichotom argumentiert, ist natürlich zu
starken Vereinfachungen gezwungen. So wird oft ein Schreckensbild vom
Tiersein gezeichnet, von dem sich der Mensch dank seiner Zivilisation
abgrenzen kann. Reich kritisiert diese Vorstellung in Massenpsychologie
des Faschismus zu Recht. Er kann aufzeigen, dass dieses Bild mehr mit
der Angst der Menschen als mit der Realität zu tun hat. Ottmar Lattorf
geht den umgekehrten Weg wie die kritisierten Mechanisten: er romantisiert
und idealisiert die Zeit vor dem von ihm wahrgenommenen Umbruch. Zusammengefasst
sieht das ungefähr folgendermaßen aus: Die Römer und deren
"Nachfolge - Imperien" machten die europäischen Stämme
zu abhängigen und hörigen Bauern, verboten die Stammesreligionen
und unterzogen sie einer u. U. Jahrhunderte dauernden brutalen Zwangschristianisierung.
Trotz dieser auch nach seiner Definition eindeutig patriarchalischen Struktur
scheinen gerade die Unterdrückten es geschafft zu haben, davon weitgehend
unbeeindruckt zu bleiben. "Das konkrete soziale Leben der so hörig
gemachten Bauern auf dem Lande war noch sehr von den archaischen (auch
matriarchalen) traditionellen Werten und Lebensweisen der ehemaligen Stammesgesellschaften
geprägt." Dies ist die Basis seiner Argumentation. Es gab früher
Menschen, die noch nicht verdorben waren, Menschen, die zum großen
Teil unseren Wunschphantasien von heute entsprachen und unsere Sehnsüchte
anscheinend konkret lebten. Dieses Bild wird dann ausgemalt. Im Zentrum
steht dabei der enge Kontakt zur Natur, "die Verwandtschaft aller
Lebensformen", man fühlte sich integriert in den ewigen Kreislauf
allen Lebens. Und daneben, nicht als Ausdruck patriarchalischer Verklemmungen,
sondern gerade als Ausdruck der Verbundenheit mit der Natur, die Orgien.
Sie fanden "zu Vollmond statt und waren zugleich Treffpunkt, um wichtige
Informationen auszutauschen, Massenpicknick, Karneval, Trink- Sexual-
Orgie und Heilzeremonie." Hier wurde geschmaust, getanzt, emotionale
Ekstase angestrebt und seinen sexuellen Interessen nachgegangen. Zentrum
und treibende Kraft waren dabei die Frauen in der Rolle der Hexen. Ist
das nicht geradezu ein paradiesisches (Männer) Bild? Hinzu kommt
im Alltag ein an Lust und Lebensfreude ausgerichtetes Gesundheitswesen
und natürlich die Badehäuser mit ihren Freizügigkeiten.
Die Bademädchen waren natürlich "keine käuflichen
Dirnen", sondern "Expertinnen in Sachen Tanz, Musizieren, Singen,
Massagen usw." Auch im Bett des Mittelalters ging es scheinbar drunter
und drüber. Im Gegensatz zu heute gab es für die Menschen damals
auch keine Probleme mit der Freizügigkeit, weder zwischen Frauen
und Männern, noch mit der Empfängnisverhütung. "Es
gibt zudem weder im mittelalterlichen Europa [...] Hinweise auf ungewollte
Schwangerschaften, auf Säuglingssterben, Kindbettfieber oder Mütterelend."
Ich will hier nicht näher auf einzelne Kritikpunkte eingehen, wie
zum Beispiel die sehr fragwürdige Herleitung der angeblichen "deutschen
Mentalität" aus über 500 Jahre altem Morden "auf ehemals
germanischen, deutschen Boden". Vielmehr sei hier als Beleg für
meine These der Idealisierung nur auf zwei Punkte verwiesen, die Ottmar
Lattorf wohlwissend verschweigt: 1. Nach Heinsohn/Steiger war eine der
wichtigsten Methoden der Empfängnisverhütung der Coitus interruptus,
= der von Reich nicht umsonst als neurotisierend verdammt wurde. 2. Es
ist einfach zynisch zu behaupten: "Es gibt zudem weder im mittelalterlichen
Europa, noch bei irgendwelchen außereuropäischen Völkern
vor der Kolonisation Hinweise auf ungewollte Schwangerschaft, auf Säuglingssterben,
Kindbettfieber oder Mütterelend." Wenn es keine ungewollte Schwangerschaft
gab, wozu gab es dann die Abtreibung? Und wieso wurden Kinder dann nach
der Geburt wieder sanft "ins Jenseits gehievt" (O - Ton Ottmar
Lattorf)?
In diese Idylle der Naturverbundenheit und freien Sexualität bricht
nun die "sexuelle Zwangsmoral" in Form der Hexenverfolgung ein.
Ottmar Lattorf folgt dabei weitgehend der Argumentation von Heinsohn/Steiger,
mit einem wesentlichen Unterschied: für Heinsohn/Steiger war es kein
"Krieg gegen das Sexuelle im Menschen", sondern der Versuch
herrschender Gruppen, ihre ökonomische Situation durch "Menschenproduktion"
zu verbessern. Dementsprechend werden v.a. Verhaltensweisen unter Strafe
gestellt, die zur Geburtenkontrolle genutzt werden können, wie z.B.
Männer begattungsunfähig machen, Empfängnisverhütung
und Kindesmord. Sie kommen zu dem Schluss, dass die bevölkerungspolitische
Unterbindung der Geburtenkontrolle ganz unvermeidlich auch eine "sexuelle
Überwachung nach sich ziehen muss" (115). Sie argumentieren
im Wesentlichen von den ökonomischen Gegebenheiten aus und nicht
von den moralischen Einstellungen.
Meine Hauptkritik richtet sich aber nicht so sehr auf die Beschreibung
dieser Zeit als vielmehr auf die Bedeutung, die Ottmar Lattorf ihr für
die Geschichte zuschreibt. Das Vorgehen vor allem der katholischen Kirche
wird für ihn zur Ursache fast aller Probleme, mit denen wir uns heute
herumschlagen müssen. Hierzu nur ein paar Zitate aus dem Text: "Fast
alle emotionalen Deformationen und psychische Störungen, mit denen
sich dann 400 Jahre später Legionen von Psychologen auseinandersetzen,
nehmen hier ihren Anfang." "Alles was wir heute im sozialen
Zusammenleben als emotionale Kluft zwischen Mann und Frau [...] vorfinden,
... all das geht auf Maßnahmen zurück, die der Hexenhammer
gewollt und koordiniert hat." "Es kam zur Ent-Solidarisierung
zwischen Mann und Frau. Es kam zu einem ständigen Machtkampf, zu
einem stillen Krieg zwischen den Geschlechtern." "Der Einbruch
der sexuellen Zwangsmoral in Europa war dermaßen massiv, dass man
über die letzte Jahrhundertwende noch spekulierte, ob die Frau überhaupt
sexuelle Empfindungen hat." "Es kam zur massenhaften Zementierung
der emotionalen Panzerung in Europa.[...] Und diese Massen- Neurotisierung
[...] ist heute das eigentliche und zentralste Problem auf der Erde."
"Das was uns heute als sexuelle- emotionale, neurotische Störungen
der Menschen, als notwendige und zwanglose Folge des christlichen Glaubens
daherkommt, ist in Wahrheit Resultat eines kirchlich und staatlich organisierten
Mordens." usw. usw.
Auf den Punkt gebracht ist dies eine Argumentation, die einem Mythos
alle Ehre machen würde. Einmal haben wir das einfache Volk, das trotz
aller Unterdrückung an seiner Naturverbundenheit und Sexualfreundlichkeit
festhält. Auf der anderen Seite haben wir den bösen Gegenspieler
in Gestalt der katholischen Kirche. Sie hat in ihren Taten und Aussagen,
die sich bis auf das alte Testament zurückführen lassen , bewiesen,
dass sie als Verkörperung der Gewalt, der Sexualfeindlichkeit und
des Patriarchats angesehen werden kann. Dieses Böse bricht nun am
Ende des Mittelalters in die Idylle der einfachen Menschen ein und bringt
dort die Ordnung durcheinander, wie das der Diabolo immer tut. Wir haben
nun ca. 500 Jahre später noch mit dem Scherbenhaufen zu kämpfen,
den uns die katholische Kirche damals beschert hat.
Es ist unbestreitbar, dass unser heutiges Verhältnis zur Sexualität,
zwischen den Geschlechtern, zur Gewalt usw. historisch gewachsen ist und
es gibt genug Hinweise, dass diesen Themen in anderen Kulturkreisen durchaus
andere Bedeutungen zugeschrieben werden. Dennoch halte ich eine derart
monokausale Argumentation für falsch und auch den vielfältigen
und anschaulichen Quellen nicht angemessen. Die Geschichte ist komplex
und in ihren Entwicklungen widersprüchlich und meiner Meinung nach
gerade dadurch interessant. Man sollte eine differenzierte Betrachtungsweise
nicht zugunsten eines eindeutigen Freund- Feindschemas aufgeben.
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Man könnte demzufolge annehmen, Reich thematisiere
den heutigen Menschen als eine Ausprägung des Tiersein. Aber weit
gefehlt. Er stellt den Größenphantasien des zivilisierten Menschen
die Sehnsüchte desselben gegenüber. Er dämonisiert nicht
die Natur, sondern idealisiert sie. Er zeichnet keine Schreckensbilder,
sondern reproduziert die ebenfalls sehr alten Bilder von der reinen Natur
und vom edlen Wilden. Von diesem Natursein sind wir mechanistisch mystisch
strukturierten Menschen weit entfernt. Reich zieht letztlich die gleiche
Grenze wie die Mechanisten, bloß mit umgekehrten Vorzeichen. Er
ist sich mit ihnen einig in der Grenzziehung, widerspricht ihnen aber
in der Bewertung. In der einen Bewertung hat der Mensch durch die Kultur
das Tiersein überwunden, in der anderen Bewertung wird das jetzige
Menschsein in seine guten ursprünglichen Anteile und die negativen
neuen Anteile aufgespalten: "Das Leben des Menschen ist aufgespalten
in ein Leben nach biologischen Gesetzen [...] und ein zweites Leben, das
durch die Maschinenzivilisation bestimmt ist." (DMdF 296).
Später prägt er für die zweite Seite den Begriff der Widernatur
des Menschen. Sie ist nicht einfach eine Ausdifferenzierung der Natur
und des Lebens, sondern aufgrund des Panzers gegen diese gerichtet. Dies
unterscheidet den (mechanistischen) Menschen von allen Tieren.
Die prinzipielle Anderssein des Menschen ist für ihn so selbstverständlich,
dass er es nicht für nötig hält, es zu begründen oder
gar empirisch zu belegen. Mir ist keine Stelle bekannt, in der er darlegt,
wie er darauf kommt, dass Tiere nicht maschinell, nicht sadistisch, und
"ihre Gesellschaften (innerhalb derselben Art) [...] unvergleichlich
friedlicher als die des Menschen" sind. Hier wird der Wissenschaftler
Reich eindeutig von seinen idealisierten Bildern am kritischen Forschen
gehindert. Anstatt tatsächlich das Verhältnis zwischen den Tieren
und den Menschen genauer zu analysieren, benutzt er die angeblich so friedlichen
Tiere nur als Hintergrund, auf dem sich die maschinell entarteteten Menschentiere
gut negativ abheben. In dieser wissenschaftlich nicht begründeten
Grenzziehung zwischen den Tieren und den mechanistischen Menschen sehe
ich einen der größten Schwachpunkte in Reichs Gedankengebäude,
der sich in mehreren seiner Argumentationketten wiederfindet.
Anstatt seine Behauptungen über das Tier - Mensch Verhältnis
z.B. durch eine Charakteranalyse der Tiere zu belegen zieht er es vor,
in der Phylogenese des Menschen nach einen Umbruch zu suchen. So bin ich
mir sicher, dass ein Tier in dauernder Gefangenschaft (Zoo) oder dauernder
Verwöhnung (manche Haustiere) nur mit einem Charakterpanzer überleben
können. Reich ist sich seiner Grenzziehung aber so sicher, dass er
diese Fragestellung gleich überspringt und die nächste Frage
thematisiert: "Why did man as the only living animal species develop
an armor" (Cosmic Superimposition S.111)
Er steht so vor demselben Paradox, das in der Bibel durch die Paradiesgeschichte
gelöst wird: Wie kommt es, dass der natürliche Mensch aus der
Ordnung der Natur ausschert und zumindest in bestimmten Bereichen wider
sie lebt? Als Materialist kann er dabei nicht auf Instanzen zurückgreifen,
die von Außen einwirken, sondern muss den Schritt von Natur zur
Widernatur aus sich selbst heraus erklären. Dies gelingt ihm nicht.
Ihm gelingt es anhand der Daten von Malinowski Veränderung in der
sozialen und individuellen Struktur der Menschen aufzuzeigen. Dies ist
allerhand, weil es wichtig ist zum Verständnis unserer heutigen Gesellschaft.
Auch ich finde den Umgang der Trobiander mit der Sexualität und die
Organisation ihrer Gesellschaft sehr spannend, aber unsere Gesellschaft
ist in keinem Punkt unnatürlicher als die der Trobiander. Genauso
wenig wie es auf dieser Ebene eine Grenze zwischen den Hexen und uns gibt,
gibt es diese zwischen den Trobiandern und uns. Dieses Festhalten Reichs
an einer scheinbar selbstverständlichen Grenze kann wie bei den Mechanisten
als eine Funktion der Angst interpretiert werden, als ein Versuch, feste
Punkte in seine Ordnung zu bringen, um ihm so eine eindeutigere Orientierung
zu geben.
Ich denke aber auch, dass dies Reich zumindest in den späten Jahren
klar war. Da spricht er nicht mehr so viel von Brüchen, sondern eher
von fließenden Gegebenheiten, starre Strukturen und Nullpunkte sind
ihm (wie Elias) suspekt. Prozesse, wie sich das eine aus dem anderen herausentwickelt,
aber trotzdem eins bleibt, sind seine Themen. Wissenschaft mit ihren Definitionen
und Grenzziehungen ist ihm nur ein grober Versuch, der fließenden
Wirklichkeit nahe zukommen.
Hier sollen einige Zitate von Reich zu dieser Sichtweise genügen:
"Die wissenschaftliche Theorie ist, betrachtet vom Standpunkt des
lebendigen Lebens, ein künstlicher Haltepunkt im Chaos der Erscheinungen.
Sie hat daher den Wert eines seelischen Schutzes. Man droht nicht zu versinken
in diesem Chaos, wenn man die Erscheinungen fein säuberlich eingeteilt,
registriert, beschrieben hat und somit verstanden zu haben glaubt."
( Die Entdeckung des Orgons S.39) "zero (0) does not exist in nature;
it simply cannot be found or placed anywhere." ( Orgonometric Equations
S.176) "Das funktionelle Denken duldet keine statischen Zustände.
Ihm ist das Naturgeschehen bewegt, selbst dort, wo es sich um erstarrte
Strukturen und unbewegte Formen handelt. Es ist gerade diese Bewegtheit
und Ungewissheit im Denken, das immerzu Fließende, das den Beobachter
in Kontakt mit den Naturvorgang setzt." (Äther, Gott und Teufel
S.91) "Ich habe es an mir selbst und an vielen Mitarbeitern immer
wieder erlebt, dass das Festhalten an starren Grenzen und Gesetzen die
Funktion hat, psychische Unruhe zu ersparen. Indem wir das Bewegte erstarren
lassen, fühlen wir uns merkwürdigerweise weniger bedroht, als
wenn wir ein bewegtes Objekt erforschen." (Äther, Gott und Teufel
S.99) |
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Nachdem ich dies geschrieben hatte, fand ich in dem
neuen Buch von Bernd Senf Die Wiederentdeckung des Lebendigen genau die
Argumentation wieder, die ich oben kritisiert habe. Auch hier geht es
wieder um den Zeitpunkt als die Gewalt in die "menschliche Gesellschaft
eingebrochen ist" (245), wie diese "Initialzündung"
(255) anschließend zur "Kettenreaktion der Gewalt" führte
und die Menschen aus dem Paradies vertrieb. Also der gleiche Aufbau: anhand
einiger Indizien wird ein Paradies als konkrete Gegebenheit konstruiert,
davon wird unsere patriarchale Gesellschaft hart abgegrenzt und dazwischen
die Katastrophe geortet. Warum, warum diese Suche nach dem Zeitpunkt vor
dem "dramatischen Umbruch" (252), vor dem alles besser war,
warum dieser teils krampfhafte Versuch, das Paradies als konkrete vergangene
Realität zu konstruieren?
Hierauf gibt Bernd Senf eine Antwort. Er möchte eine andere Gesellschaft
mit anderen Menschen. Eine Gesellschaft, die sich an der Zeit vor dem
Umbruch als reales Vorbild orientiert. Wenn die mythischen Bilder vom
Paradies als historische Beschreibung gesehen werden, können sie
als konkrete Vorbilder dienen. So in etwa Bernd Senfs Argumentation (252).
So wird auch klar, warum es wichtig ist, ein konkretes Paradies wissenschaftlich
zu belegen und zu klären, warum wir davon getrennt sind. Seine Gegensatzanordnung
stellt der historischen Realität den nicht realen Mythos gegenüber.
Mythos ist etwas was "den Eindruck erweckt, als habe es sich dabei
niemals um eine Realität gehandelt und als könne es auch nie
Realität werden." (252)
Mythen sind aber wie unsere wissenschaftliche Betrachtungsweise nur Interpretationen
der Realität. Sie können demzufolge nur auf der Basis der Sinnwelt
verstanden werden, in der sie gebildet wurden. Dies gilt für die
wissenschaftliche Betrachtungsweise genauso. Menschen, die in der Tradition
der oralen Weitergabe von Stammesgeschichte aufgewachsen sind, haben aus
dieser Welt heraus keinen Zugang zu den Fakten unserer Geschichtsbücher.
Wenn sie diese als Legenden interpretieren würden, würden sie
unserer Realität wohl kaum näher kommen. Sie müssen sich
schon mit unseren Sinnwelten beschäftigen, bevor sie den Sinn in
unseren Geschichtsbüchern verstehen könnten. Das gleiche gilt
für die Mythen. Niemandem ist wirklich geholfen, die Inhalte der
Mythen in die Welt unserer Geschichtsauffassung zu pressen, weder den
damaligen Menschen, die den Mythos vom Paradies geprägt haben, noch
uns, denn wir würden massiven Irrtümern über die Realität
aufsitzen. Dass das Paradies ein auch heute noch interessanter Mythos
ist, hat nicht zuletzt Reich gezeigt (Christusmord), als Beschreibung
historischer Gegebenheiten ist sie fehl am Platz.
Freud hatte in seiner Kulturtheorie eine Konstante in sein Menschenbild
eingefügt, den Ödipuskomplex und die Sublimierung als kulturstiftenden
Mechanismus. Reich hat demgegenüber eine historisch kritische Position
bezogen, indem er diesen Mechanismus als geworden beschreibt und nicht
als Konstante. Bei den Trobiandern hat er gezeigt, dass es durchaus Kulturen
gibt, die im Gegensatz zu Freuds Behauptungen ohne wesentliche Sexualunterdrückung
auskommen. Dies ist der wichtigste Punkt überhaupt: es ist eine Alternative
zur jetzigen Gesellschaft und Kultur, inklusive Sexualunterdrückung
denkbar. Das, was so oft als Wesensmerkmal des Menschen ausgegeben wird,
ist hinterfragbar, da es sich sozial entwickelt hat. Und wenn eine Alternative
denkbar ist, so ist es auch möglich, in dieser Realität Schritte
in Richtung dieser Alternative zu versuchen.
Das ist wohl auch Bernd Senfs Bestreben. Aber dafür braucht man
weder das unrealistische Idealbild eines historisierten Paradieses noch
das genaue Datum, als das Unheil in die Welt einbrach.
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