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Anmerkungen zur orgonomischen Spiritualität

 

 

Spiritualität ist auch bei vielen Menschen, die sich auf Reich beziehen seit Jahren ein wichtiges Thema. So widmet sich die Wilhelm Reich Gesellschaft in einer Vorstandssitzung den 'spirituellen Dimensionen der Orgontherapie' und die Nr. 16 der Zeitschrift EMOTION hat das Thema sogar alsSchwerpunkt.

Gerade für eine wissenschaftliche Weltsicht ist die Beschäftigung mit Spiritualität ein wichtiges und ernstes Thema.

Mich irritiert aber, mit welcher Selbstverständlichkeit zentrale Postulate von Reich trotz gleichzeitiger Orientierung an seinem Modell, offensichtlich als irrelevant berachtet werden.

Der folgende Text ist eine zugespitzte Kritik an der orgonomischen Spiritualität. Dieser Text wurde in sehr ähnlicher Form auch in der EMOTION Nr 16 veröffentlicht

 

 

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Entweder oder….

 

Kurze Anmerkungen zur orgonomischen Spiritualität

 
Früher oder später

Mein Name ist Ingo Diedrich und ich wurde vor gut vierzig Jahren im katholischen Eichsfeld geboren. Damals war sowohl die zentrale Bedeutung des Pfarrers im Dorf als auch der sonntägliche Kirchgang unhinterfragt.

In meiner Jugend verlor diese kirchliche Struktur langsam ihre Selbstverständlichkeit – der Glaube blieb. Der Papst, die vertrocknete Hierarchie, die konservativen Lehren standen am Pranger und es war klar, dass Jesus das alles nicht gewollt hatte.

Dieser Jesus forderte ein radikales Leben im Glauben und nicht eine Jahrtausende dauernde katholische Tradition. Er stand an der Spitze eine Bewegung und wandte sich gegen die Pharisäer als religiöse Struktur.

In diesem Sinne religiös zu sein, hieß für mich, sich am Grundsätzlichen zu orientieren, die Wurzel oder auch den Kern freizulegen. Diesem Maßstab sollte das eigene Handeln standhalten. Nicht zuletzt aus dieser Perspektive folgten auch politische Aktionen im Umweltschutz- und Friedensbereich. Flugblattaktionen bei den braven Kirchgängern sollten die Oberflächlichkeit ihrer religiösen Struktur aufzeigen. Dieser Oberflächlichkeit stand die gefühlte Intensität der eigenen Bewegung gegenüber. Diese Intensität war der wesentliche Aspekt meiner damaligen Spiritualität: Die Mystiker, die Asketen und die Mönche waren Vorbilder, nicht die Kirchenlehrer. Katzanzakis Wort von ‚Herr spanne mich, damit ich breche’ war mir wichtig.

 

Religion, Kirche, Struktur und Oberflächlichkeit auf der einen und Mystik, Spiritualität, Bewegung und Intensität auf der anderen Seite. Die eigene Position auf der Seite der Bewegung konnte so gut von der starren Struktur abgegrenzt werden.

Diese Verortung beinhaltet aber auch eine seltsame Widersprüchlichkeit: einerseits steht hier das Spüren des Lebens, die Geilheit der Bewegung im Vordergrund, andererseits richtet sich der Fokus letztlich auf den jenseitigen Bereich. Die Bewegung und das gleichzeitige Projizieren ins Jenseits macht diesen Zustand erträglich und zugleich so verzweifelt. Die Sehnsucht wird erlebt und zelebriert und sie weiß doch, dass sie hier nie befriedigt wird.

All dies bringt für mich Reichs Begriff der Mystik auf den Punkt.

 

Später, insbesondere als mir mein sexuelles Leben wichtig wurde, änderten sich die Koordinaten. Nicht die am Jenseits orientierte asketische Selbstüberwindung, sondern die konkrete Befriedigung der Bedürfnisse im Diesseits rückte ins Zentrum. Bis heute ist es nicht immer leicht, die Sehnsucht zu spüren, ohne ins wohlige Bett der Mystik abzugleiten.

Reichs Werk gibt wichtige Orientierungspunkte, aber u.a. mit der Konstruktion des unaussprechlichen Orgasmus bieten sich auch hier einige Fallstricke.

 

Meine Entwicklung war früher stark spirituell geprägt, später änderte sich das – Gott sei Dank. Reich wird häufig eine umgekehrte Entwicklung unterstellt. Früher hätte er in der Religion eindeutig eine Perversion gesehen und später hätte er sogar die betenden Hände von Dürer verschenkt.

Es stimmt, in seinen späteren Werken, wie z.B. Äther, Gott und Teufel ist von einer einfachen Schwarzweißmalerei nichts zu spüren. Da steht zum Beispiel das Bekenntnis „Ich weiß nicht, ob ‚Gott’ existiert“ (Reich, 1987, S. 46) und er muss einräumen: „Ich begann zu irren, als ich die Religion allein für das Elend verantwortlich machte“. Aber schon der folgende Satz macht auch die Position des ‚späten Reich’ deutlich: „Ich wusste nicht, dass der religiöse Irrtum ein Symptom und nicht die Ursache der menschlichen Biopathie ist.“ (Reich, 1987, S. 47). Er tastet die Grenze des Mystizismus feiner ab, aber er lässt doch keinen Zweifel an der Grenze.

 
Außen oder Innen

„Da alles in der Natur miteinander in der einen oder anderen Weise zusammenhängt, ist das Thema ‚Orgonomischer Funktionalismus’ praktisch unerschöpflich.“ (Reich, 1987, S.13) Obwohl Reich so primär den allumfassenden Anspruch seiner Perspektive beschrieb, wird gleichzeitig eine wesentliche Grenze deutlich: Die Orgonomie ist eine Wissenschaft der Natur.

 

Wie in den meisten religiösen Systemen, so wird auch in der christlichen Tradition explizit ein Bereich angenommen, der jenseits der Natur besteht: Gott hat die Natur erst erschaffen. Die Offenbarungslehre macht deutlich, dass hier die Grenzen jeglicher Wissenschaft liegen. Der Kontakt mit dieser Welt bleibt ihr prinzipiell verborgen.

 

Vieles deutet darauf hin, dass im Umfeld der EMOTION Spiritualität genau so verstanden wird. So schreibt Heike Buhl in einer Mitschrift einer Vorstandssitzung der Wilhelm-Reich-Gesellschaft über die „sehr spirituelle“ Eva Reich: „sie bezieht bewusst Gebete in ihre Arbeit mit ein und bereichert den therapeutischen Kontakt um diese von Reich verdrängte Dimension.“ (Buhl, S.134) Ob er diesen Bereich verdrängt hat oder nicht, offensichtlich geht es hier um eine „Dimension“, die mit Gebeten und nicht mit Mitteln des Orgonomischen Funktionalismus bearbeitet wird.

 

Wenn dieser Bereich nun außerhalb der Natur liegt, wo ist das? Ist es quasi eine Parallelwelt zu unserer Natur, die Seelenwesen, Engel oder/ und Götter beherbergt? Oder liegt sie eher im Sinne der Schöpfung der Natur zugrunde?

Das hieße einfach nur, dass Reich mit dem primordialen Charakter der Orgonenergie irrte. Unserer materiellen bzw. energetischen Welt läge demzufolge eine geistige bzw. spirituelle Welt zugrunde. Der Kontakt mit dieser Welt wäre demzufolge ein Orgonomischer Funktionalismus mit erweiterten Mitteln.

 

Es bleibt die Frage, welchen Sinn die Bearbeitung einer Dimension hätte, die nicht Teil unserer Natur ist. In der Vorstandssitzung wird in diesem Zusammenhang ein für mich verwirrendes System „therapeutischer Wirkebenen“ aufgebaut. Es werden drei Ebenen der Orgontherapie aufgezählt: die körperliche, die emotionale und die geistige Ebene. „Die dritte Ebene ist die des Geistes, des Kontaktes ‚nach oben’“ (Buhl, S.136) Es geht den Therapeuten um die Harmonisierung dieser Ebenen, wobei die Spiritualität „körperlich gefühlt und erfahren werden [muss], nicht nur gedacht.“ Mir ist weder klar, was damit gemeint ist, noch was das noch mit Reich zu tun hat.

 
Links oder Rechts

Es gibt aber auch Hinweise darauf, dass der spirituelle Bereich innerhalb der Natur verortet wird. Auch hier stellt sich dann die Frage, wo dieser Bereich angesiedelt wird.

 

Ein Vorteil des Orgonomischen Funktionalismus ist, dass er hilft, sich in der Natur zu orientieren. Reich wollte weniger erklären als vielmehr dem Aufbau und der Bewegung der Natur nachgehen und verdeutlichen.

Dazu entwickelte er auch eine Formelsprache. Innerhalb einer einfachen Funktionsgleichung steht auf der linken Seite die den Variationen zugrunde liegende Funktion, auf der rechten Seite die Variationen.

Je weiter man also nach links schaut, desto einfacher, aber auch grundlegender werden die Funktionen. Ganz links befindet sich Orgon. Je weiter man nach rechts schaut, desto spezifischer werden die Funktionen. Ganz rechts befindet sich der Funktionsbereich des Lebens.

 

Häufig erscheint es so, als ob der spirituelle Bereich ganz rechts verortet wird. Es scheint ein Raum zu sein, der von Wesen bewohnt wird. Wenn dem so ist, stellt sich die nächste Frage: Warum ist der Kontakt mit diesem Bereich nicht selbstverständlich?

Dafür gäbe es innerhalb des Orgonomischen Funktionalismus zwei mögliche Antworten:

Der spirituelle Bereich ist entweder eine Variation der Lebensfunktion, die nur die Lebewesen als solche wahrnehmen können, die ebenfalls diese Variation entwickelt haben.

Eine Amöbe ist ein Lebewesen, die aufgrund des somatischen Funktionsbereichs mittels Organempfindung z.B. andere Lebewesen wahrnehmen kann. Wir Menschen haben demgegenüber auch noch den psychischen Funktionsbereich mit der Wahrnehmung der Empfindung ausgebildet. Die Amöbe kann mit dieser spezifischen Variation der Lebensfunktion nichts anfangen. Ihr fehlt die Psyche und somit empfindet sie keine Angst oder Lust.

Vielleicht hat sich ja ein spezifisch spiritueller Funktionsbereich herausgebildet, den natürlich nur die wahrnehmen können, die ebenfalls diese Funktion entwickelt haben. Daraus folgt, dass es durchaus Wesen geben kann, die die Lebensfunktion in völlig anderer Weise variieren als wir. Diese spezifischen Aspekte können aber eben nur von denen wahrgenommen werden, die auch die Lebensfunktion entsprechend variieren.

 

Die andere Möglichkeit besteht darin, dass die Charakterstruktur der meisten die Wahrnehmung des spirituellen Bereichs verhindert.

 

Häufig klingt es aber auch so, als ob der spirituelle Bereich ganz links gesehen wird: Etwa wenn Volker Knapp Diederichs die „grundlegende spirituelle Erfahrung“ als „Gewahrsein von Grenzenlosigkeit und Einheit von Realität“ definiert. „Die mystische Erfahrung ist die des göttlichen Wesens in sich selbst und im Ganzen, des All-Einen, also eine Erfahrung, in dem sich die innere göttliche Natur mit der äußeren verbunden fühlt“ (Knapp-Diederichs, S.28). Wenn man sich diesem Glaubensbekenntnis genau so nähert, wie Reich sich im Christusmord dem ‚Vaterunser’ genähert hat (Reich, 1983, S.81), so wird klar, worum es eigentlich geht. Wenn man das „göttliche“ durch Orgon ersetzt, erscheint diese spirituelle Erfahrung als Selbstwahrnehmung des Orgon. Die lebendige Variation der Orgonenergie nimmt sich als spezifisch und somit als abgegrenzt war (innere göttliche Natur) und gleichzeitig eben nur als eine Variation der Funktion, die der gesamten Natur zugrunde liegt („äußere“ göttliche Natur). Es ist die Wahrnehmung des allem zugrunde liegenden Orgon. Diese Selbstwahrnehmung des Orgons ist bis heute ein offenes Rätsel.

Aber warum wird es nicht als solches behandelt, sondern in den spirituellen Bereich gespiegelt und somit mystifiziert? „Mystifizierung bedeutet, dass wir das Spiegelbild einer unerreichbaren, verlockenden, unlebbaren, nicht greifbaren und darum unerträglichen Wirklichkeit in uns selber anbeten.“ (Reich, 1983, S.82).

 
Alt oder Neu

Im Vorwort der Emotion 15 steht, dass die „Reich-Therapeuten“ „unabhängig voneinander, sich mit spirituellen Erfahrungen ihrer Klienten konfrontiert fanden“ (S.8).

Soll das etwa heißen, dass dies etwas Neues ist? Hatten früher die Klienten keine spirituellen Erfahrungen? Wenn man die Texte des Reich-Therapeuten Reich liest, kommt man vielmehr zu dem Eindruck, dass diese Konfrontation mit spirituellen Erfahrungen ein ganz, ganz alter Hut ist!

 

Die Struktur des ‚homo normalis’ ist bestimmt von der mechano-mystischen Aufspaltung und in der Charakteranalyse wird Reich nicht müde, die mystischen Verzerrungen seiner Patienten darzustellen. Wie kommt es, dass die Therapeuten dies Thema offensichtlich als neu empfinden?

 

Aber auch mit seinen eigenen spirituellen Seiten hat sich Reich schon früh intensiv auseinandergesetzt. Dies kam insbesondere in seiner Beschäftigung mit dem Vitalismus zum Tragen. Vieles faszinierte ihn hier, insbesondere die tiefe Einsicht ins Leben, und typisch für spirituelle Ansichten: „Das alles war sehr dunkel und ungenau, mehr Gefühl als Wissen“. (Reich, 1987a, S.28) Reich hatte auch seine Einwände: „Die Jenseitigkeit des Lebensprinzips aber wollte nicht recht in mein Empfinden kommen.“ (Reich, 1987a, S.28) Und später sah er sich hier bestätigt: „Mein leises Empfinden von der irrationalen Natur seiner [des Vitalisten Drieschs] Annahmen behielt recht. Er landete später bei den Geistersehern.“ (Reich, 1987a, S.28)

Reich argumentierte jahrelang im Spannungsfeld des mystischen Vitalismus und des mechanistischen Materialismus. Erst als er seine funktionalistische Perspektive formulierte, sah er diesen Widerspruch endgültig überwunden. Jetzt konnte er sich eindeutig von beiden Polen distanzieren.

 

Reich hier folgend, war es lange Zeit selbstverständlich, sich außerhalb spiritueller Traditionen zu verorten. Neu ist also nicht, dass die Klienten spirituelle Erfahrungen äußern, sondern, dass sich die Therapeuten als spirituelle Therapeuten definieren!

 

Reich hat sich lange damit beschäftigt, was so faszinierend und auch richtig an der mystischen Position ist und wie dies richtig interpretiert in eine orgonomische Position übernommen werden kann.

Ganz einfach: wenn man der Vorstellung von ‚Gott’ die verzerrende Spiegelung wegnimmt, gelangt man zur Wahrnehmung der lebendigen Bewegung und Orgons. Offensichtlich gehen nun die Therapeuten wieder den umgekehrten Weg: Nachdem Reich den ‚élan vital’ und die ‚Entelechie’ der Vitalisten von den verzerrenden Anteilen befreit hatte, geht es nun wieder um die „Integration […] der Körper- und Seelen-Energie“ (Buhl, S.137). Dlouhy beschreibt dementsprechend seine Therapie: „Ich gehe die Ebenen und Felder weiter hoch über die Körperebene, die psychische Ebene bis zur Selbst-Ebene, wo es um Selbstverwirklichung, Selbsterfahrung, aber auch um Verschmelzung im Sinne von Spiritualität und Glauben geht. Ich frage: ‚Glaubst du an irgendetwas? Gibt’s was Höheres für dich, was dich hält, bist du eingebunden?’“ (Rackelmann, S.111)

 

Dies wirft natürlich die von Reich vorgegebenen Koordinaten völlig um: Reich sah in den Vorstellungen von Gott eine Wahrnehmungsstörung. Es ging darum, den Patienten eine Wahrnehmung zu ermöglichen, dass sie Gott nicht mehr benötigen.

Bei den spirituellen Therapeuten geht es nun darum, wieder eine Vorstellung von Gott aufzubauen. Auf den Punkt gebracht: Dlouhy würde wahrscheinlich bei einem genitalen Charakter nachbohren, warum diese Person nicht dazu in der Lage ist, an etwas Höheres, an Gott zu glauben.

 

Neu ist also das Selbstbild der Therapeuten, das sich daraus ergebende Therapiekonzept und die Distanz zu Reichs Konzept. Die Aufgabe der Therapeuten bestehe nun darin „eine notwendige Erweiterung von Reichs Konzepten in der heutigen Zeit“ vorzunehmen (Buhl, S.137).

 
Orgonomie oder Spiritualität

Was ist nun Spiritualität? Ich weiß es nicht und nach meinen Gesprächen mit sich als spirituell verstehenden Menschen gehe ich davon aus, dass es zumindest keine Einigung über diesen Begriff gibt.

Wenn man nach der diesem Begriff zugrunde liegenden Emotion forscht, komme ich eigentlich immer zum selben Ergebnis: die Sehnsucht wird hier thematisiert. Das Gewahrwerden der Trennung von einem wesentlichen Bereich und das Sehnen nach der Aufhebung der Trennung. Ob der jenseitige Bereich mit Gott, Geist oder dem Kosmos identifiziert wird, ist dabei sekundär. Manche spirituelle Menschen können auf Augenblicke verweisen, in denen die Trennung aufgehoben war. In den spirituellen Praktiken geht es aber primär darum, die trennende Grenze abzutasten.

In meinen Augen ist das nichts anderes als Mystik im Sinne Reichs.

 

Das Problem ist, dass ich so indirekt sage, dass offensichtlich ein großer Teil der Therapeuten große mystische Anteile haben. Nicht nur das: der mystische Blickwinkel geht immer einher mit der mechanistischen Perspektive.

 

In dem Vortrag ‚Über die Wurzeln des Menschen in der Natur’ beschreibt Reich diesen Zusammenhang: Auf der Basis des Mechanismus kann man gut arbeiten, aber er ist „nicht geeignet, auch das Gefühlsleben der Menschen zu erfassen; so mussten mystische und religiöse Dogmen herhalten, um die Lücke zu füllen. Darin erscheinen bekanntlich Geist und Seele, dieses ‚Etwas’ im Menschen, das fühlt, weint, lacht, liebt und hasst, mit einem spirituellen Weltgeist verbunden, der auf mehr oder weniger deutliche Weise die Verbindung des Menschen zum Schöpfer des Universums, zu ‚Gott’, versinnbildlicht. So ergänzten sich mechanistische und spiritualistische Weltsicht gegenseitig, ohne dass eine Brücke zwischen beiden existiert hätte“ (Reich, 1997, S.19)

 

Mystische und mechanistische Weltsicht stehen sich konträr gegenüber, sind aber gleichzeitig voneinander abhängig. Sie sind beides Spaltungsprodukte aufgrund des Panzers.

Es macht wenig Sinn, den Therapeuten eine mechanistisch-mystische Charakterstruktur nachzusagen. Aber eins ist klar: sie stehen mit ihrer spirituellen Position konträr zu Reich: „Bis zur Entdeckung der kosmischen Orgonenergie wurde die Erfahrung der eigenen Verwurzelung in der Natur entweder in transpersonellen, spirituellen Vorstellungen mystifiziert, oder sie wurde einem unergründlichen, auf ewig verschlossenen Gefilde zugeschrieben, das für den Menschen unerreichbar ist.“ (Reich, 1997, S. 127)

 

Natürlich kann auch Reich irren. Aber bevor man behauptet, Reich habe da eine Dimension „verdrängt“ oder wie selbstverständlich, Begriffe wie „Gott“ wieder ins orgonomische Vokabular einführt, wäre es sinnvoll zu verdeutlichen, wie man darauf kommt. Was für Argumente können gegen ‚Charakteranalyse’, ‚Christusmord’, ‚Äther, Gott und Teufel’ und ‚Die Kosmische Überlagerung’ angeführt werden?

Reich hat sich gegen eine orgonomische Spiritualität gewandt: Entweder (orgonomischen) Kontakt zu den eigenen Wurzeln oder mechanistisch-mystische Aufspaltung.

Welche Argumente sprechen ganz konkret für eine orgonomische Spiritualität?

 

Was der Mechanist wahrnimmt ist oberflächlich, profan, starr und letztlich trostlos. Was der Mystiker verzerrt wahrnimmt hat demgegenüber Tiefe, Heiligkeit, Bewegung und vermittelt Sinn; es ist die von der direkten Erfahrung abgespaltene Intensität. Da wo dieser Intensität wieder eine Struktur zugeordnet wird, entsteht die starre Kirche.

 

Dies macht deutlich, dass die Mystik sich nicht vermitteln lässt. Sie ist (strukturlose) Bewegung, sie ist die Erfahrung, die sich nicht zuordnet. Sie vermittelt sich letztlich nicht zwischen den Menschen, sondern nur in der Erfahrung selbst. Deswegen sind die Aussagen über den spirituellen Bereich auch immer so dunkel und vage: was außer der Sehnsucht lässt sich tatsächlich benennen?

 

Wenn man aber erst einmal Mechanismus und Mystik als Spaltungsprodukte sieht, so wird deutlich, dass es da jeweils eine wesentliche Verbindung zur Orgonomie gibt, die sich als zugrunde liegende Einheit der Spaltung versteht. Der Orgonomische Funktionalismus ist dem eigenen Anspruch entsprechend eine Variation der Lebensfunktion, also eine durch diese Funktion strukturierte Bewegung. Struktur und Bewegung bilden hier noch eine Einheit. Wie bei den Mystikern steht hier der Kontakt zur Bewegung im Vordergrund. Das so erlangte Erfahrungswissen ist aber nicht vom konkreten Leben abgespalten, sondern als profanes Wissen vermittelbar. Dies unterscheidet die wissenschaftliche von der esoterischen Erfahrung.

 

Anstatt einen spirituellen Bereich zu konstruieren fände ich es besser, die Möglichkeiten des orgonomischen Erfahrungswissens konsequent weiter auszubauen. Es gibt noch so viele Fragen, denen man spirituell ausweichen oder die man eben angehen kann. Reich nennt hier beispielhaft das „größte aller Rätsel des Lebens, die Funktion der Selbstwahrnehmung“: „In der Suche nach Wissen drücken sich die verzweifelten Anstrengungen der Orgonenergie im lebendigen Organismus aus, sich zu begreifen, sich ihrer selbst bewusst zu werden. Und indem sie die Mittel und Wege des eigenen Seins begreift, lernt sie, den kosmischen Orgonozean zu verstehen, der die wallenden und suchenden Gefühle umschließt.“ (Reich, 1997, S.125)

 
Literatur

Buhl, Heike: Spirituelle Dimensionen der Orgontherapie, in: EMOTION Nr. 15, Berlin 2002, Seite 133- 137 (Zusammenfassung einer Vorstandssitzung der Wilhelm – Reich – Gesellschaft)

Knapp-Diederichs, Volker: Wilhelm Reichs großes Geheimnis, in: EMOTION Nr. 15, Berlin 2002, Seite 14 – 31

Rackelmann, Marc: Interview mit Manfred Dlouhy, in EMOTION Nr. 15, Berlin 2002, 105 - 120

Reich (1983), Wilhelm: Christusmord, Frankfurt/M 1983

Reich (1987), Wilhelm: Äther, Gott und Teufel, Frankfurt/M 1987

Reich (1987a), Wilhelm: Die Entdeckung des Orgons Bd. 1. Die Funktion des Orgasmus. Köln 1987

Reich (1997), Wilhelm: Die kosmische Überlagerung. Über die orgonotischen Wurzeln des Menschen in der Natur. Frankfurt/M 1997